Deutschlandflug
einen angenehmen Flug, auch wenn er vorläufig nicht auf die Bermudas führt. Wir haben übrigens gerade erfahren, daß es in Hamilton, der Hafenstadt dort, regnet. Genießen Sie also das herrliche Wetter über Deutschland.
Ich habe meine Kabinencrew angewiesen (er hatte gar nicht, tat es hiermit), Ihnen einen Extracognac oder Whisky zu servieren!«
Er hängte den Telefonhörer zurück auf die Halterung am Mittelpaneel. Fast hätte Mahlberg Beifall geklatscht. Aber Bloch sagte eiskalt:
»Wann fangen Sie endlich mit der Checkliste an, Mann?«
Ein gutes Dutzend Sitzreihen hinter dem Cockpit war Dr. Dollinger der zweite Bourbon im Hals steckengeblieben. Er hustete sich frei und hörte den weiteren Verlauf der Ansage kaum noch bewußt. Jetzt war schon geschehen, was er soeben noch theoretisch durchgespielt und für die Zukunft vorausgesagt hatte. Terror und Gewalt waren schon in der Gegenwart angekommen. Bürgerkrieg in Irland, japanische Extremistenmassaker, Tupamaroentführungen, Folterungen in Griechenland, in Spanien, in Portugal und wo eigentlich nicht: All die grausigen Begleiterscheinungen menschlichen Gegeneinanders, bisher sicher und wohlbehalten auf die Fernsehscheibe gebannt, verließen ihren Aufbewahrungsort und wurden Realität. Oder boten zumindest die Möglichkeit dazu.
Dollinger warf einen schrägen Blick auf seine Nachbarin – eine berufsmäßige Bratschenspielerin und Lehrerin. Sie hatte ihm von ihrer Arbeit im Stuttgarter Kammerorchester berichtet; und er staunte, wie vertrauensvoll sie die Ansage des Kapitäns aufnahm und kaum ihre Lektüre unterbrach – einen zerfledderten Superband über italienische Geigenbauer. Auch sonst breitete sich in der riesigen Kabine nur ein kaum merkbarer Hauch von Unruhe aus. Offenbar überließ man sich willenlos den weiteren Vorgängen, so, wie man beim Betrachten der Fernsehgreuel genußvoll, wenn auch leicht schockiert, in sein Brötchen biß. Merkte die Masse wieder einmal nicht, was um sie herum vorging? So, wie sie angeblich, von 1933 bis zum Einsetzen der Niederlagen an den Fronten, nichts gemerkt hatte? Würde die Boulevardpresse bald wieder einmal fragen: › Wie konnte das passieren?‹
Er ließ sich nun doch einen neuen Bourbon bringen; die Stewardessen hatten vollauf zu tun, nachdem der Kommandant so großzügig sozusagen Freibier versprochen hatte.
Ruhe, alter Junge, sachte an, sprach er sich, den Untersee zur Rechten, die Schwarzwaldausläufer zur Linken, selber zu.
Wie konnte es passieren, daß die Zuständigen nicht erkannten, daß ihr ›System‹ sich endgültig ad absurdum geführt hatte, daß die alten Begriffe von Moral, die Zwänge von Reaktion und Gegenreaktion passé waren? Daß man mit völlig neuartigen, fruchtbaren Ideen aufwarten mußte, um die bedrohte Zivilisation zu retten? Dem Guerillakrieg der sogenannten Linken und Radikalen hatte man nichts entgegenzusetzen als den uralten Käse; man forderte damit die Aktionen der Chaoten geradezu heraus. Ein System, das sich den Erfordernissen der Zeit nicht anzupassen verstand, hatte sich wirklich überlebt und war reif; gerade an seinen Reaktionen zeigte sich, wie recht die Systemzerstörer hatten!
Er spürte, wie die Konzentration auf seine Lieblingsgedankengänge die Angst zurückhielt, die ihm die Kehle zuschnüren wollte. Er sah schon, wie Kolumnisten wie Hans Habe in der Welt am Sonntag seine Vorstellungen mit der ironischen Feststellung kontern würden, offenbar sei wieder einmal nicht der Mörder, sondern der Ermordete schuldig.
Der kommende Guerillakleinkrieg würde auch die Bürger einer biederen Provinzstadt wie Uelzen oder Itzehoe nicht verschonen – solange sie sich durch brave Bürgerkleidung mit Krawatten und kurzem Haarschnitt als Systemverfechter zu erkennen gaben. Allerdings: bald würde es kaum noch um genau definierte Ziele gehen. Eine Art ›L'art pour Part‹-Kampf würde auch vor dem friedlichsten Bürger nicht mehr haltmachen. Dabei würde jene Industrie einen Riesenaufschwung nehmen, die sich heute mit der Herstellung von selbstklebenden Handtuchaufhängern, leicht montierbaren Aktenkörben, Seifenschalen, Cocktailstickschälchen und Autokompassen befaßte. Da würde der Autozündschlüssel angeboten werden, der beim Umdrehen garantiert die eventuell montierte Bombe unschädlich machte, der magnetische Brieföffner, der das gleiche bewirkte, die Alarmvorrichtung am Kinderwagen, die eine Entführung des Babys verhindern sollte. Die Lehrer würden mit
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