Deutschlandflug
weiter nichts als eine Gebärmaschine, durch die der Mensch in eine freiere, höhere, weiträumigere Welt hineingeboren wurde.
Die Euphorie der Freiheit war allerdings von kurzer Dauer: Man fand sich in dem schmalen Behältnis wieder, das trotz aller Widebody- und Jumboreklame noch immer nichts weiter als eine Duralröhre war. Man schnallte seinen Körper an mehr als hundert Tonnen Flugzeugmaterie und war nun mehr denn je der Schwere verhaftet.
Er lächelte. Du denkst zuviel nach, würde Margot jetzt warnen. Schalte dein Oberlicht ein, damit dein Tagesbewußtsein erhellt wird. Ohne Nachdenken läßt es sich wunderbar leben in dieser Welt voller fabelhafter Sportwagen, Regenversicherungen und Weihnachtsbäume vom Versandhaus! Sie dachte selber zuviel nach. Beide brachten den Trick fertig, sich mit ihrem Tagesbewußtsein ganz naiv an den Annehmlichkeiten ihrer Epoche zu freuen – auf den Flügen, beim Wasserski, bei einem guten Film. Sie freuten sich wie Kinder über ein Spielzeug – über ein Spielzeug, das die furchtbar seriösen Zeitgenossen um sie für tierisch ernst und bedeutsam hielten.
Der Umzug der Belegschaft aus den alten Räumen hatte sich so vollzogen, daß die Presse von einem perfekten Auszug aus der Vergangenheit in eine neue Zukunft sprach. Mehr als 5.000 Arbeitsplätze mußten verlegt werden, weitere 2.000 würden später nachfolgen. Dabei waren diffizile Probleme zu lösen: So durften fast hundert Fernschreiber nicht länger als zwei Stunden ausfallen, um den Flugbetrieb aufrechtzuerhalten. Spezialfahrzeuge mit Sprechfunk jagten zwischen den beiden Häfen hin und her; die Polizei sperrte alle Zufahrtsstraßen zur Hauptverbindung und gewährleistete lückenlosen Verkehrsfluß. Nie hatte man auf so engem Raum eine derartige Vielfalt von Sondertransportwagen gesehen: Großmöbelwagen, hydraulische Hebebühnen, gepanzerte Geldtransporter, Großraumküchenwagen, Sattelschlepper, Feuerwehr- und Tankwagen, Schwertransportkrananlagen, Polizeifahrzeuge aller Art bis zum Panzerschützenwagen.
Da der Plan auf die Minute genau getimed war, standen Heere von Monteuren und Technikern bereit, einzuspringen, falls ein Fahrstuhl versagen, ein Motor streiken sollte. Ein einziger Unfall auf den Zufahrtsstraßen hätte ein Chaos auslösen können. Die Polizei, ohnehin bis zum letzten Mann überlastet, wurde in den Wahnsinn getrieben durch die Forderung dreier namhafter Frankfurter Juweliere, für den Tresortransport ihrer Pretiosen in die neuen Ladenstraßen mindestens neun Mann abzustellen: Niemand hatte sie eingeplant.
Auf dem Weg vom Parkplatz zum Bürohausfahrstuhl kam er jedesmal an Dr. Müllers Sexshop vorbei. Hier traf sich alles, was an männlichen Passagieren Zeit und sexuelles Interesse hatte oder vortäuschen wollte. Vom seriösen Geschäftsmann mit Silberkrawatte über biedere, dickbäuchige Touristen bis zu Jugendlichen, die ihren Spaß haben wollten, waren alle Arten der männlichen Spezies vertreten, durchblätterten die einschlägige Fachliteratur, studierten die Ratschläge für glücklichere Nächte und deckten sich meistens lediglich mit Lektüre für den Flug oder das einsame Hotelleben ein. Aber ausgerechnet hier, vor den Auslagen mit Liebestränken, Cremes, Vibrationsstiften und japanischen erotischen Tuschzeichnungen aus dem siebzehnten Jahrhundert, erkannte Gundolf den wesentlichsten Vorzug moderner Großflughäfen: Eine solche Stadt im Kleinen war ein Ort der Freiheit – jener Freiheit, die in der überfüllten Duralröhre eines Großraumjets kaum zu erleben war. Hier konnten sich die Großen der Leistungsgesellschaft zunächst in der VIP-Lounge einen doppelten Whisky einschenken lassen, dann sich im Sexshop anonym unters landläufige Volk mischen, vom Sexshop zum Supermarkt überwechseln – und wenn sie im mystischen Teil ihrer Weltseele Zweifel an den irdischen Errungenschaften und ihrer Sicherheit hegten, so konnten sie auch einem der drei Flughafenpfarrer und -pastoren noch einen dezenten Besuch abstatten, ohne sich dem Gespött ihrer Kollegen aussetzen zu müssen.
Der Flughafen als Ort der Freiheit: Anders als in einer Provinzstadt störte hier niemand den anderen. Hier, nur hier, konnten Schwarze, Weiße, Mongolen, Homos, Industriekapitäne, Lesbierinnen, Sodomiten, Minister, Hippies und Direktoren friedlich nebeneinander existieren, auf den Abruf warten, in den luxuriösen und skandalös teuren Restaurants oder einfach neben dem Pappkoffer auf bessere Flugzeiten hoffen.
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