Deutschlandflug
zerstörten, was man mühsam genug aufgebaut hatte: ganz gleich, ob es sich um Ordnung und Wohlstand oder um einen ihm anvertrauten Jumbo handelte.
Tatsächlich konnte sich Bloch kein schöneres Spielzeug für einen ausgewachsenen Mann denken als eine DC-10. Sie war ein Mittelding zwischen einer technischen Supersache und einer kostspieligen, luxuriösen Geliebten. Wichtig dabei war, daß man sie jederzeit unter Kontrolle und in der Gewalt hatte. Als Mann war man der absolute Herrscher, Patriarch eines technokratischen Staates, ganz gleich, ob der Gehorsam von einem technischen oder einem erotischen Gerät ausging.
Um die zahlreichen Systeme eines Flugzeuges zu durchschauen und zu beherrschen, war eine Art konzentriertes technisches Hochschulstudium notwendig. Früher wurde der Unterricht durch Lehrer erteilt, die nicht ruhten, bis auch das letzte Ventil in irgendeiner esoterischen Hydraulikleitung voll in seiner Wirkungsweise und Funktion verstanden worden war. Seit Jahren schulten die Kapitäne, Piloten und Ingenieure anhand von Lernmaschinen um:
Der ehemalige Lehrsaal war zellenartig aufgeteilt worden. In jeder Zelle standen ein Film-, ein Diaprojektor und ein Tonbandgerät. Das Lehrprogramm war schematisch aufgeteilt und behandelte die verschiedenen Systeme eines modernen Großflugzeuges: das hydraulische System, mit dem u.a. Landeklappen, Vorflügel und Fahrwerk betrieben wurden. Das elektrische System für die Stromversorgung an Bord, für Beleuchtung, Fluginstrumente, Pumpenbetrieb, Bordküchenanlagen und Scheinwerfer. Das pneumatische System für die Kabinendruckanlage, die Enteisung und die Notbedienung bei ausgefallener elektrischer Anlage. Der Aufbau dieser und zahlreicher anderer Systeme, von denen kein Fluggast jemals den Namen gehört hatte – wie: Flugregelsystem oder AVI-System – wurde durch Filme, Dias und Tonbandkassetten erklärt. Jeder Unterabschnitt wurde durch Testfragen, die nach dem ›Multiple Choice System‹ aufgebaut waren, abgefragt. Von vier – A, B, C, D – Fragen war nur eine einzige richtig. Der Bildschirm des Autotutorgerätes hatte, ähnlich wie ein Fernsehapparat, Tasten, die ebenfalls mit den vier Buchstaben des Alphabets bezeichnet waren. Drückte man die falsche Antwort, so wurde umständlich erklärt, weshalb die Antwort falsch war. Hatte man seinen Fehler eingesehen, konnte man durch entsprechendes Weiterdrücken sich wieder in das Lehrprogramm einordnen. Hatte man sofort die richtige Antworttaste gedrückt, so fuhr man unvermittelt in dem Programm fort. Selbstverständlich wurde das ganze Lehrprogramm mit echt deutscher Gründlichkeit noch durch umfangreiche Wälzer ergänzt, in denen die einzelnen Schemata, Diagramme und Leistungskurven sowie Querschnitte durch Hydrauliksysteme oder Elektrikanlagen noch zusätzlich erläutert und vertieft wurden.
Aus den rund 1.200 Fragen des Lehrsystems wurden etwa 100 für den Abschlußtest ausgesucht, von denen genau 20 falsch sein durften.
Bei den Umschülern, die dort, vom fünfzigjährigen Kapitän mit mehr als 12.000 Flugstunden bis zum jüngsten Kopiloten mit einjähriger DC-9-Erfahrung, auf der Schulbank saßen, stellte sich regelmäßig nach der Halbzeit jener Zustand ein, den Mahlberg einmal als ›Systemkoller‹ bezeichnet hatte. Man warf jetzt restlos alle Systeme durcheinander und wußte nicht mehr, wo man all die gedrückten Überdruckventile, Absaugleitungen, Reduzierschalter, Unterspannungssicherungen, Autosyndrehmesser, Querlagewahlschaltknöpfe, Regelscheiben, Triebwerkzapfluftleitungen und Fahrwerknotfahrwahlhebelstellungen einordnen sollte.
Die rein fliegerische Umschulung auf dem Flugzeug selber war in sechs Stunden absolviert, einschließlich Prüfungsflug. Der theoretische Lehrgang dauerte vier Wochen. Wie immer hatte sich Bloch besonders intensiv in die Eingeweide seines neuesten und letzten Typs, den er bis zu seiner Pensionierung fliegen würde, vertieft. Er war während dieser Umschulungszeit von einer geradezu religiös fanatischen Askese und Konzentration besessen. Er trank nicht, er rauchte kaum, er ging früh zu Bett und war der erste im Autotutorraum. Er vergaß sogar, sofern ihm das möglich war, die Frauen, beinahe auch Karin.
Tatsächlich erinnerte das Dasein der Umschüler an Mönche, die sich täglich in ihren Zellen dem Studium ihrer Riten und Kulte widmeten, die sie eines Tages dazu befähigen würden, ihre Sinne zu erweitern: Eingeweihte in das Mysterium der Zahl, Beherrscher eines
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