Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Deutschlandflug

Titel: Deutschlandflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Beruf war Tag für Tag Produktivität und Entscheidungsfähigkeit verlangt worden. Jetzt fühlte er sich wie ein Urlauber, der alle viere in den warmen Sand des Sonnenstrandes strecken darf.
    Was er ebenfalls genoß: die Absurdität seiner Situation. Aus dem Alltag westlicher Zivilisation urplötzlich in ein Land versetzt, das gerade erst für den europäischen Besucher erschlossen worden war. In ein Land, in dem die Zeit stehengeblieben war. Während sie tranken, das duftende Brot brachen, köstliche Salami abbissen, den Stimmen der nächtlichen Vogelwelt lauschten, rekapitulierte er die Eindrücke des Tages.
    Noch immer wurde in den Dörfern und Kleinstädten der Wochenmarkt abgehalten; noch immer reisten die Bauern mit Pferdewagen an, schirrten sie auf den dafür vorgesehenen ›Parkplätzen‹ aus und ließen sie während ihres Einkaufsbummels pflegen und mit Hafer füttern.
    Kaum ein Dorf, das nicht sein halbes Dutzend Storchennester hatte. Eine alte Frau, die ihnen an einer vorsintflutlichen Tankstelle Benzin mit einer Handpumpe in den Tank pumpte und noch Deutsch sprach, sagte: »Ein Dorf, das keine Störche hat, ist krank.«
    Das Wunderbarste aber an Masuren waren seine Landstraßen. Hier war kein einziger Baum dem Autoverkehr geopfert worden, uralte Stämme wechselten mit jungen Birken, die von jungfräulichem Weiß waren. Zottelte ein Pferdefuhrwerk vorüber, stürzten sich Schwärme von Finken auf die Pferdeäpfel – ein Bild, wie er es zum letztenmal in seiner Kindheit in Masuren gesehen hatte.
    Plötzlich rauschte aus einem nahen Erlengebüsch das Flöten eines Sprossers auf. Schon fielen weitere ein; bald erzitterte das ganze Seeufer unter dem Schlagen und jauchzen der Vögel.
    »Nachtigallen!« deutete Margot berauscht, aber falsch.
    »Ihre östlichen Nachbarn – Sprosser. Kaum von ihnen zu unterscheiden.«
    »Ich kenne sie nur aus dem Fernsehen! Ist es nicht irre?«
    Als die halbe Honigwein-Flasche geleert war, fand er es fast selbstverständlich zu fragen:
    »Möchten Sie, daß ich Ihnen etwas aus Büchern vorlese, die ich als Lektüre mitgebracht habe. Ernst Wiechert zum Beispiel, der jahrelang als verkitscht und sentimental abgetan wurde. Besonders von den Deutschen, die ihm nie verziehen haben, daß er nicht wieder ins Nachkriegsdeutschland zurückgekehrt ist. Wenn die Hermann-Hesse-Welle abgeklungen ist, wird er ganz groß herauskommen, schätze ich.«
    »Moment noch!« bat sie. »Ich muß mich erst noch mal gefühlsmäßig ausleben! Ist diese Nacht, diese Landschaft nicht traumhaft? Sich vorzustellen, um uns, hundert Kilometer in jeder Richtung, andere Seen, neue Stillen, weitere Einsamkeiten! Und alle die magischen Namen, ich habe sie studiert, bevor ich mich abgesetzt habe: Pregel und Drewenzsee, Liebemühl und Samland. Bartenstein. Heiligelinde. Schippenbeil. Flüsse, deren Namen keiner mehr nennt: Inster, Rominte, Angerapp. Aber auch die polnischen haben es in sich: Lyna. Wolnica. Dabrowa Bial. Bagno Lawki .«
    »Sie sagen das auf, als würden Sie täglich damit leben.«
    »Sie haben recht: Ich habe eine starke Beziehung zur Landschaft! Sie aber auch. Ich bereite mich immer intensiv auf das vor, was ich auf meinen Flügen zu sehen bekomme.«
    Aus dem Dämmer des Sees glitten zwei blasse Schemen heran.
    »Schwäne!« sagte er.
    »Wilde!« sagte sie.
    Inmitten des funkelnden, mondlichtreflektierenden Wassers trieben sie wie Traumgestalten vorüber. Die Sprosser schlugen, bauten eine Melodie auf, brachen sie in wildem Schluchzen ab.
    »Jetzt lesen Sie!« bat sie. »Aber nur bei Mondlicht?«
    Er schaltete die Innenbeleuchtung des Fiat ein und schlug eine Seite Wiechert auf:
    »Moore lagen in ihm, deren fremdartige Namen schon etwas Lockendes und Verzauberndes für mich hatten: die Padolisken, die Jeschurkobrücher, der Jektscharek, das Baranij Bhell. Zum Teil waren sie unbetretbar, immer kleiner wurden die Kiefern und Birken an ihrem Rand, und in ihrer Mitte stand Schilf und hohes Riedgras um unbewegliche Wasserblänken. Kraniche brüteten dort …«
    »Na bitte«, kommentierte sie. »Zwischen uns beiden gibt es gewisse Übereinstimmungen …«
    Er las Abschnitte aus einem Gedicht von Johannes Bobrowski, den sie nicht kannte:
    »Junge, jetzt gehn Sie aber mit mir ran, was?«
    »Da hab ich / den Pirol geliebt – / das Glockenklingen, droben / aufscholls, niedersanks / durch das Laubgehäus …«
    Im Mondlicht tauchte ein Zug Wildgänse auf, zog mit hohem Flügelsirren nach Süden in die

Weitere Kostenlose Bücher