Deutschlandflug
Ladenschluß das Wichtigste für den Abend einzukaufen. Und die ganze kommende Nacht würde sie hellwach, aber planlos verbringen; und wenn sie Trost bei ihrer Stereoanlage suchte, würde spätestens um Mitternacht jemand gegen die Wand klopfen. Und auch den nächsten Tag würde sie von einer lähmenden Müdigkeit befallen sein und verzweifelt versuchen, in den Tagesrhythmus des Normalbürgers zurückzugelangen, um nach drei, vier Tagen wiederum herausgerissen zu werden durch einen neuen Nachtflug nach Istanbul oder Teheran.
»Das alles, weil ich mir von der großen weiten Welt so viel versprochen habe!« fuhr sie fort, nachdem sie ihre Problematik geschildert hatte. »Ich glaube, ich hinke hoffnungslos hinter diesem Jahrzehnt her. Manchmal komme ich mir vor wie aus dem vorigen Jahrhundert … Das sagt Ihnen eine Stewardeß, die modern und aufgeschlossen und am modernsten Verkehrsmittel eben dieses Jahrzehnts ausgebildet worden ist!« Der Mond neigte sich dem Horizont hinter dem jenseitigen Seeufer zu und wurde größer und roter. In den Seggen schnarrten Uferschnepfen oder Bekassinen im Halbschlaf.
»Ich hatte mir so eine Art Poesie des Reisens und Umhervagabundierens erträumt. Statt dessen stoße ich überall auf alle Scheußlichkeiten des heutigen Reisebetriebs. Und ich finde kaum Menschen, die zu den angeflogenen Orten überhaupt irgendeine Art von Beziehung haben. Keine Rede davon, daß beim Anblick eines nepalesischen Holztempels, des Tadsch Mahals oder der Transsibirischen Eisenbahn ein Traum in Erfüllung geht.«
… Wenn Thomas später an ihre Nachtgespräche an einem masurischen See im Jahr 1972 zurückdachte, erinnerte er sich ihrer Schlußfolgerung, die sie aus der Beziehungslosigkeit des modernen Menschen zur Natur gezogen hatte: Sie sehe darin eine direkte Verbindung zu der Welle von Terror und Gewalt, die auf die Welt zukäme. Sie könne sich nicht vorstellen, daß ein Mensch, der in Harmonie und echter Beziehung zur Umwelt lebe, zu derartigen Gewaltakten fähig sei …
Darin lag gewiß eine Unzahl von Trugschlüssen. Für Thomas hingegen war wichtiger, ihre Gedankenwelt zu verstehen, nicht, sie mit Noten zu versehen.
Der Zufall wollte, daß er ein knappes Jahr später von Quandt als Beobachter zu einer außerordentlichen Vollversammlung der ICAO nach Rom geschickt wurde. Auf jener diplomatischen Konferenz wurden die IFALPA-Forderungen nach erhöhter Sicherheit im Luftverkehr und Maßnahmen der Regierungen in bezug auf die zunehmenden Terrorakte vorgebracht.
Es war die trostloseste Konferenz, die er jemals besucht hatte.
Obwohl sich die Konferenz ein äußerst bescheidenes Ziel gesetzt hatte, war das Ergebnis in bezug auf die Forderungen der internationalen Pilotenvereinigung IFALPA gleich null. Obwohl auf dem Flughafen von Athen gerade ein Massaker stattgefunden hatte, gelangte man wegen der zahlreichen Stimmenthaltungen zu keiner Beschlußfassung über Verhütungsmaßnahmen.
Niemand hatte den Mut, sich offen gegen den arabischen Luft-Terrorismus auszusprechen, aus Furcht, den Ölhahn zugedreht zu bekommen. Das Groteske der Situation lag darin, daß wenige Monate später trotzdem der Ölhahn zugedreht wurde. Trotz der dadurch initiierten Ölkrise war nicht einmal ein Boykott der den Terrorismus öffentlich unterstützenden Staaten erreicht worden.
Inmitten der Atmosphäre der Trost- und Hoffnungslosigkeit, die sich damals besonders unter den Pilotenvertretern breitmachte, fand ein gewisser Captain O'Grady die einzig passenden Abschlußworte:
Er sähe den Weg, den die Zivilluftfahrt nehmen werde, mit den Leichen von Passagieren, Besatzungsmitgliedern und anderen unschuldigen Menschen gepflastert. Dazwischen würden lächelnd Entführer und Saboteure umherspazieren, während die Regierungen der betroffenen Länder diskret wegsehen würden …
Derartige Gedanken lagen ihm in jener seltsamen Masurennacht ferner denn je.
»Ich könnte die ganze Nacht so sitzen bleiben!« sagte sie.
»Warum tun wir es nicht?« schlug er vor.
Sie taten es. Spät nach Mitternacht verdämmerte der Gesang der Sprosser. Sie legten eine Zwischenmahlzeit ein: polnischer Räucherschinken, dunkler Viniak-Branntwein, würziges Graubrot.
»Wir haben morgen noch den ganzen Tag …« Sie sah wehmütig auf die geleerte Flasche. »Was schlagen Sie vor?«
»Halten Sie durch, ohne Schlaf?«
»Klar!«
»Dann schlage ich die Marienburg vor, in der Nähe von Elbing. Die polnische Regierung ist gerade dabei, sie mühsam
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