Deutschlehrerin
fassen: Sie hatte tatsächlich einen richtigen Schriftsteller kennengelernt und dieser Schriftsteller interessierte sich sogar für sie.
MATHILDA ERZÄHLT XAVER EINE GESCHICHTE
Manchmal hat er einen Anfall, wenn ich bei ihm bin. Er zuckt am ganzen Körper und gibt eigenartige Laute von sich, die gurgelnd und zischend aus seinem verzogenen Mund kommen. Er ist dann zu schwach, um sich auf den Beinen zu halten, er kippt um und stürzt zu Boden, dabei muss ich aufpassen, dass er sich nicht am Kopf verletzt. Ich kenne die Vorzeichen schon gut genug, um rechtzeitig reagieren zu können. Manchmal kann ich einen Anfall vorher schon abwenden, indem ich ihm ein Bad einlasse. Das Wasser hat beruhigende Wirkung auf ihn, er liegt wie tot mit geschlossenen Augen in der Wanne und ist völlig entspannt dabei. Wenn sich der Anfall nicht vermeiden lässt, liegt er auf dem Boden, seine Arme und Beine verrenken sich, seine Augen werden ganz weiß und aus dem Mund fließt Speichel. Ich schiebe ihm einen Kochlöffel zwischen die Zähne, damit er sich nicht in die Zunge beißen kann.
Einmal, es ist jetzt fünf Monate her, biss er sich so fest, dass das Blut nur so spritzte und er tagelang eine dermaßen angeschwollene Zunge hatte, dass ich Angst hatte, er würde keine Luft bekommen. Beim Einatmen zog er die Luft schwer und geräuschvoll durch die Nase ein, beim Ausatmen durch den Mund röchelte er leicht. Mit seinen Fingern tastete er immer wieder besorgt seine Lippen und seine Zunge ab.
Die Anfälle begannen vor eineinhalb Jahren. Wir aßen gerade zu Abend, als ihm die Gabel aus der Hand fiel, er mit dem Kopf und den Armen unkontrollierte Bewegungen machte, bis er schließlich sogar vom Stuhl fiel. Ich erschrak zu Tode und fühlte mich so hilflos wie nie zuvor in meinem Leben. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich dachte, er würde sterben, hier vor mir, auf dem Küchenboden. Sein ganzer muskulöser Körper schien ein einziger Krampf zu sein, als hätte eine andere Person von ihm Besitz ergriffen, als wäre er eine Figur in einer Fantasy-Story. Das Ganze dauerte an die fünfzehn Minuten, für mich war es eine Ewigkeit. Ich lag neben ihm auf den Fliesen und versuchte verzweifelt, ihn an mich zu drücken und durch abwechselndes Festhalten und Streicheln seine Gliedmaßen zu beruhigen. Nie hatte ich ihn mehr geliebt als in diesen Minuten. Als es vorbei war, lag er erschöpft und zusammengekauert da und keuchte heftig. Seine Augen blickten zunächst ins Leere, später schauten sie erschrocken drein, so als könnte er selbst am wenigsten fassen, was da mit seinem Körper vorgegangen war. Stundenlang lag er apathisch in seinem Bett und ich konnte ihn zu nichts bewegen.
MATHILDA UND XAVER
Sie sahen sich täglich, nach einer Woche übernachtete er zum ersten Mal bei ihr und am Morgen waren sie ein Paar.
Er war ihr erster richtiger Freund, im letzten Gymnasiumjahr hatte sie eine Zeit lang für einen jungen Musiklehrer geschwärmt, der ihre Schwärmerei jedoch ignorierte, und mit zwanzig, im vierten Semester in Wien, wollte sie unbedingt endlich mit einem Mann schlafen, sie kam sich bereits wie eine alte Jungfer vor. Auf einem Studentenfest trank sie ein wenig zu viel und fasste sich ein Herz, sie sprach den jungen, schüchternen Mann an, der sie seit einer Stunde beobachtete und ihr verklärte Blicke zuwarf. Er entjungferte sie in ihrem Zimmer mit viel Mühe, da auch er unerfahren war, dauerte es eine Ewigkeit, bis er es schaffte, in sie einzudringen. Noch nie hatte Mathilda einen derartigen körperlichen Schmerz empfunden, sie schrie wie am Spieß, der junge Mann, er hieß Martin, verließ eine Stunde später traumatisiert die Wohnung und sie saß enttäuscht vor dem großen, roten Fleck im Leintuch. Ein halbes Jahr lang trafen sie sich mehr oder weniger regelmäßig, der Sex wurde zwar weniger schmerzhaft, aber nicht besser, sie hatte einfach keine Gefühle für ihn und beendete die Affäre. Eineinhalb Jahre später lernte sie Xaver kennen und die Verliebtheit traf sie wie ein Blitz.
Nach ein paar Monaten bekam sie zufällig Xavers Tagebuch in die Hände und blätterte darin herum, sie fand nicht viel über ihre Beziehung darin, es war mehr ein Notizheft, in dem er spontane Einfälle und Ideen aufschrieb. Mathilda durchzuckte ganz kurz das Bedürfnis, er möge sie doch vergöttern und dies aufgeschrieben haben, aber ahnte, dass es nicht so sein würde. Über ihr Kennenlernen hatte er nur ein paar Zeilen geschrieben: »Es war alles
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