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Deutschlehrerin

Deutschlehrerin

Titel: Deutschlehrerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Taschler
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sein Großvater und Vater einmal Bürgermeister zu werden? Die Herausforderung, er muss es zugeben, reizt ihn. Wird er es schaffen, aus der alten Familie Sand wieder das werden zu lassen, was sie vor dem Krieg war, und vielleicht sogar noch mehr? Gleichzeitig fürchtet er die Verantwortung, die solch ein Leben mit sich bringt, Anna hat einen mongoloiden Bruder, den sie höchstwahrscheinlich in die Ehe mitbringen wird, wohingegen eine Mitgift kaum zu erwarten ist. Den Vater gilt es bis zu seinem Lebensende zu versorgen und zu pflegen, die Schwestern soll man gut verheiraten oder sich um eine passende Dienststelle für sie kümmern.
    Oder sieht er sich als Fremder in einer großen Stadt, in einem Land, in dem es nur Fremde gibt, in dem Herkunft, Abstammung und Name kaum etwas zählen, alleine die Kraft der Hände und die Arbeit des Kopfes und das, was man sich damit schafft? Ein Fremder, der sich zeitlebens in der Sprache nicht heimisch fühlen wird, der aber in vielerlei Hinsicht freier ist als in der Heimat, wo man die jahrhundertealte Last der Sippschaft mitschleppt und sich immer bestimmten Zwängen und Verhaltensmustern (»Denk daran, du bist ein Sand!«) verpflichtet und verbunden fühlt. Richard erinnert sich gut an das Gefühl, das er im ersten Jahr in Milwaukee verspürte, er fühlte sich wie neugeboren und unerklärlich beschwingt. Es gab keine Menschen, die ihm weiß Gott was vorhielten oder ihm mit stillen Vorwürfen begegneten: Dein Großvater hat mir die Wiese zu billig weggeschnappt, dein Vater hat schlechtes Leder für die Schuhe verwendet, dein älterer Bruder war ein wilder Raufbold und hat mir den Zahn ausgeschlagen, deine Tante hätte mich nehmen sollen anstatt diesen Trunkenbold, das hat sie jetzt davon. Er empfand es als Last, dass die Menschen im Dorf alles von ihm und seinen Vorfahren wussten und ihn danach bewerteten, und empfand es als Befreiung und Erleichterung, in der großen Menschenmenge in Milwaukee ein Nichts und Niemand zu sein. Doch auf der anderen Seite spürte er in allem eine wohltuende Vertrautheit, als er im Dezember 1918 wieder nach Hause zurückkehrte, nachdem er aus einem Brief der Schwester erfahren musste, dass seine Mutter und sein ältester Bruder bei einem Brand ums Leben gekommen waren. Alle sprachen seine Sprache, seinen Dialekt, er kannte jeden Stein in der Umgebung, er sah nur in vertraute Gesichter, er fühlte sich daheim.
    Wie soll er sich entscheiden? Er weiß es nicht, lässt sich auf einen Haufen Steine fallen und vergräbt die Hände im Gesicht. Seit Wochen ringt er innerlich um eine Entscheidung.
    Sein ganzes Leben hängt von dieser einen Entscheidung ab! Warum kann man nicht mehrere Entwürfe seines Lebens versuchen und sich dann für einen entscheiden? Ein Leben ist, als hätte man keines! Wenn man sich falsch entschieden hat und sich das im Alter eingestehen muss, wie schrecklich muss das sein.
    Mathilda: Das ist das erste Mal, dass du dich mit der Geschichte deiner Familie auseinandersetzt.
    Xaver: War höchste Zeit.

MATHILDA UND XAVER
    Diese ersten zwei gemeinsamen Jahre, in denen sie noch getrennte Wohnungen hatten, waren die intensivsten, die geselligsten und lautesten. Fast jeden Abend standen sie in der Küche von Mathildas Wohngemeinschaft, mit Xavers Freund Paul und ihrer Freundin Karin, Spaghetti kochend, essend, trinkend und Gras rauchend, die Füße auf dem Tisch, und fortwährend redend. Sie redeten ständig, sie redeten laut, sie redeten über alles, was sie sahen, hörten, lasen und was sie bewegte, sie redeten über ihren Tagesablauf, über Professoren, über Politik, über Philosophie, über Gott und die Welt und vor allem über Bücher. Mathilda lernte viel von diesen Gesprächen über Bücher, oft mehr als bei den Seminaren auf der Universität, deshalb saugte sie Xavers leidenschaftliche Analysen von Geschichten und Charakteren gierig in sich auf. Oft wusste sie spontan über ein Buch nur zu sagen, ob es ihr gefallen hatte oder nicht, sie kam über die Stimmung, die es ihr vermittelt hatte, nicht hinaus und brauchte eine Weile, um sich weitere Dinge aus den Fingern zu saugen, die dann langweilig und nichtssagend klangen. Sie wünschte sich Xavers Eloquenz.
    Spät in der Nacht zog man mit Freunden und Bekannten los, in irgendeine Bar, in ein Pub oder zu einer privaten Party. Jede Woche feierte jemand aus dem Bekanntenkreis ein Fest in seiner Studentenbude, und dort wurde auch wieder lautstark geredet, mit der Bierflasche in der Hand, und

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