Deutschlehrerin
ihre Lebensgeschichten zu hören, und gleichzeitig, dass sie mich sehen, wie ich lebe, was ich tue, sozusagen als »Zeugen meines Lebens«, damit ich nicht ganz versumpfe, damit ich mich zusammenreißen muss, ich mich nicht gehen lasse.
Die Dorfleute starren mich immer mitleidig und neugierig an, wenn ich die finstere Gaststube durchquere, um mich an den letzten Tisch zu setzen, für sie bin ich die gescheiterte Existenz, ihre Gesichter kommen mir vage bekannt vor (klar, ich wuchs hier auf), doch hätte ich keinen Einzigen mit Namen nennen können. Kurz vor Weihnachten setzte sich ein alter Klassenkamerad zu mir, wir waren in der Volksschule unzertrennliche Freunde gewesen, er hieß Bernhard und arbeitete als Montagetischler im Nachbarort. Er bestellte einfach zwei Bier für uns und stieß mit mir an, dazu sagte er nur mit einem schiefen Grinsen: Auf das Scheißleben.
Ich musste unwillkürlich lachen, es passte zu ihm, ich hätte nichts anderes von ihm erwartet als dieses leise, spöttische: Auf das Scheißleben. Ja, Prost, zum Wohl, auf dich, du Scheißleben! Seitdem trinken wir regelmäßig gemeinsam ein paar Bier, dabei reden wir gar nicht viel, meistens schweigen wir uns an und blasen uns Rauch ins Gesicht. Was Bernhards Leben betrifft, hat der Trinkspruch eindeutig Berechtigung, er wuchs ohne Vater auf und die alleinerziehende Mutter ging den ganzen Tag arbeiten, um sich die Lebensmittel leisten zu können, und die Kinder waren bereits im Kindergartenalter am Nachmittag alleine zu Hause auf sich gestellt. Seine Frau, deretwegen er ein luxuriöses Haus gebaut und sich enorm verschuldet hatte, verließ ihn vor zwei Jahren wegen eines Arztes, und seine kleine Tochter sieht er kaum noch, da sie sich weigert, »zum Proleten« zu fahren, so die Worte der Siebenjährigen.
Seit genau hundertzweiundneunzig Tagen lebe ich also in Schuroth, in meinem Elternhaus, das für meine Mutter und für meinen Großvater der Lebensinhalt war, das ich als Jugendlicher als »monströse Steinburg« bezeichnete, in dem ich mich in der Kindheit schon nicht wohlfühlte und ständig fror und in dem ich seit dreiunddreißig Jahren nie mehr als zwei Nächte hintereinander geschlafen hatte. Seit meiner Ankunft im September habe ich das Gefühl, es will mich nicht beherbergen, es versucht mich ständig auszuspucken, kämpft gegen meine Anwesenheit hier, will endlich in Ruhe verwahrlosen und dann verfallen, das signalisierte es mir täglich mit Wasserrohrbruch, Kurzschlüssen, Schimmel, kaputtem Heizkessel. Einen Monat nach meinem Einzug sagte ich dem Haus den Kampf an: Ich riss alle Vorhänge herunter, schnappte alle Decken, Sofaüberzüge, Pölster, Teppiche und machte hinter dem Haus ein riesiges Feuer, Du hättest sehen sollen, wie es brannte, es loderte mehrere Meter in den blauen Himmel hoch! Stühle holte ich, die Kleider meiner Mutter, meine Babykleidung, ja sogar Bücher, ich holte alle Bücher, die im Haus waren und machte eine Bücherverbrennung, es war eine Wohltat, die Buchstaben und Worte zischend verschwinden zu sehen (es wird ohnehin viel zu viel geschrieben, findest Du nicht auch?). Wie ein Irrer machte ich einen Indianertanz um das Feuer und eine Nachbarin, die zufällig mit ihrem Hund vorbeispazierte, beobachtete mich mit offenem Mund, ich war mir sicher, sie würde die Psychiatrieabteilung im Krankenhaus anrufen.
Gut, ich gebe zu, ich übertrieb.
Bis jetzt gefällt es mir nämlich ganz gut und ich fühle mich nicht so unwohl hier, das hätte ich mir früher nie gedacht, dass es einmal mein Heimatdorf sein wird, in dem ich leben werde, und mein Elternhaus, in dem ich zur Ruhe kommen kann. (Die letzten vierzehn Jahre waren die Hölle für mich!) Ich arbeite intensiv an meinem Roman, ich werde Dir davon in Innsbruck erzählen, ich bin sicher, er wird Dir gefallen, es ist der erste Roman, an dem ich mit Freude arbeite, ja, ich setze mich jeden Tag konsequent an meinen Computer, kaum zu glauben, nicht wahr?
Jeden Tag sind eine Menge Handwerker hier, weil das Haus saniert und umgebaut wird (was der Stiftungsvorstand großzügig gestattete), ich hatte Angst, sie würden mich bei der Arbeit stören, doch bis jetzt geht es gut, sie werken im Erdgeschoß herum, ich verziehe mich in den ersten Stock oder umgekehrt. Die Außenfassade bleibt erhalten, doch das Innenleben wird völlig umgekrempelt, sogar die Raumaufteilung wird verändert, ich möchte mit keinem einzigen Detail an die alte Bude meiner Kindheit erinnert werden!
Meine
Weitere Kostenlose Bücher