Deutschlehrerin
Monate später stand Richard vor dem Grab seiner Mutter und seines ältesten Bruders, und anschließend vor der Scheune, in der es sich die Familie notdürftig eingerichtet hatte. Er war entsetzt über so viel Elend, das der vierjährige Krieg über seine Heimat und seine Familie gebracht hatte, die Sands hatten immer zu den Wohlhabenderen in der Gegend gezählt. Nun war er der älteste Sohn und fühlte sich dem alten Vater und den jüngeren Geschwistern gegenüber verantwortlich. Er verschob seine Rückkehr nach Milwaukee immer wieder, weil er es nicht übers Herz brachte, sie im Stich zu lassen, und weil ihm Anna, eine Bauerntochter aus dem Nachbardorf, ausnehmend gut gefiel.
Richard war es dann, der mit seinen ersparten amerikanischen Dollars das Haus nach seinem Entwurf, schöner und größer als zuvor, neu aufbauen ließ, mehrmals im Jahr fuhr er mit der Bahn in die Stadt und tauschte bei einer Bank das Geld um. Das Haus zu planen, zu bauen und später zu pflegen wurde seine Lebensaufgabe. Alle Familienmitglieder halfen mit und bereits zwei Jahre später, 1920, stand es da, monströs, und sah aus wie das Herrschaftshaus einer Plantage in South Carolina. Die Leute in der verarmten Region staunten über diesen großartigen Bau und pilgerten zur Baustelle, um ihn sehen zu können. Als das Haus fertig war, sperrte Richard die Schusterei wieder auf und heiratete Anna; nach Milwaukee kehrte er nie mehr zurück, so wie er es eigentlich geplant hatte. Die Kinderschar blieb nicht aus, das Paar bekam zwei Söhne und drei Töchter, und als Nachzüglerin folgte Ingeborg im Jahr 1935, Richard liebte sie – und das Haus – am meisten. Ansonsten war er ein wortkarger und verschlossener Mann.
MATHILDA ERZÄHLT XAVER EINE GESCHICHTE
Damals, es sind fast vierzehn Jahre, fuhr ich fünf Stunden mit dem Auto, um ihn abzuholen. Da ich selber kein Auto hatte, lieh ich mir den Volvo meiner Freundin Silvia. Die Adresse fand ich sofort und auch die erste Begegnung verlief ohne jede Schwierigkeit. Eigentlich hatte ich mir alles viel komplizierter vorgestellt, ich war auf jeden Zwischenfall vorbereitet gewesen, doch ich brauchte Plan B in keiner Phase meines Projekts. Ich kletterte über den Zaun und schlich vorsichtig zu dem Baum, unter dem er tief und fest schlief. Niemand war in der Nähe, niemand war zu sehen, wie leichtsinnig! Alles wirkte so friedlich und still in diesem Obstgarten, es war sehr warm, man hörte nur ein paar Vögel zwitschern, sonst nichts. Ich nahm ihn hoch und trug ihn ins Auto. Fast war ich enttäuscht, weil alles so leicht ging.
Beim Zurückfahren zog plötzlich ein Gewitter auf. Es regnete so stark, dass ich mit siebzig Stundenkilometern auf der Autobahn dahinkriechen musste. Da es zu dämmern anfing und dunkel wurde, blendeten mich die entgegenkommenden Fahrzeuge mit ihren Scheinwerfern, und nach einer Weile brannten meine Augen. Das Autofahren fiel mir nicht leicht, ich war es einfach nicht gewohnt und musste mich stark konzentrieren. Außerdem war er unruhig und warf sich in seinem Sitz hin und her, das machte mich zusätzlich nervös. Schließlich schlief er doch ein und ich konnte erleichtert aufatmen. Als wir zu Hause ankamen, war es spät in der Nacht und ich trug ihn in seine neue Wohnung. Todmüde und überglücklich schlief ich augenblicklich neben ihm ein. Endlich gehörte er mir, endlich war ich nicht mehr allein. Ich gab ihm den Namen Julius.
Xaver: Das ist eine schräge Geschichte, die du mir da erzählst.
Mathilda: Ja?
Xaver: Worum geht es jetzt eigentlich?
Mathilda: Hast du keine Ahnung?
Xaver: Nein.
Die ersten Tage mit ihm waren natürlich am schwierigsten, er weinte viel und ich konnte ihn kaum beruhigen. Dann wurde er noch krank, schwer krank, er hatte tagelang hohes Fieber, an die einundvierzig Grad, und ich musste Medikamente besorgen. Gott sei Dank ging das Fieber dann zurück und er erholte sich schnell. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn das Fieber nicht runtergegangen wäre, ich hätte ja mit ihm nicht einfach in einem Krankenhaus auftauchen können. Nach seiner Krankheit war er ruhiger, er weinte nicht mehr so viel.
Von Anfang an war ich darauf bedacht, eine klare Struktur in seinem Tagesablauf zu schaffen, jede Stunde war genau geplant, jede Beschäftigung gut organisiert. Die Tatsache, dass Sommerferien waren, kam mir zu Hilfe, so konnte ich viel Zeit mit ihm verbringen. Wir turnten, schauten uns Bilderbücher an, spielten, bastelten, malten und kuschelten
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