Deutschlehrerin
permanent, Langeweile durfte keine aufkommen. Er nahm alles dankbar an.
Schwierig war für mich, nicht mit ihm zu sprechen. Manchmal rutschte mir automatisch ein Wort oder ein Satz heraus und er schaute mich interessiert und fragend an. Um mein Sprechverbot nicht zu vergessen, klebte ich mir in den ersten Wochen Klebestreifen über die Lippen, wenn ich zu ihm ging. Er machte das nach, klebte sich unzählige Klebestreifen über Mund, Nase, Augen. Auch der kleine Fernseher lief immer, wenn ich ihn einschaltete, ohne Ton.
Xaver: Warum spricht die Ich-Figur nicht mit diesem Kind?
Mathilda: Weil sie will, dass es ohne Sprache aufwächst.
MATHILDA UND XAVER
Bei diesem ersten Besuch bei seiner Mutter blieben sie für zwei Nächte, am dritten Tag fuhren sie wieder zurück nach Wien. Auf der Rückfahrt im Zug stritten sie, weil Mathilda versuchte, Xaver seiner Mutter gegenüber versöhnlicher zu stimmen und die Vorzüge zu sehen, die ein Leben in einem solchen Haus mit sich brächten. Xaver blieb stur und uneinsichtig. Alle ihre weiteren Besuche dauerten ebenfalls nicht länger, weil er sich weigerte länger zu bleiben, er hielt es nicht aus, wurde rastlos und unruhig. Jedes Mal stand Inge mit durchgestrecktem Rücken, erhobenem Kopf vor dem großen Haus, um den beiden nachzuwinken, ihr Anblick machte Mathilda traurig. Oft stritten sie dann im Zug oder sahen beide schweigend aus dem Fenster.
Bei einem der Besuche, es war zu Ostern, versuchte Mathilda sich auf Inges Seite zu schlagen, sie hätte gerne mit Xaver nach dem Studium in diesem Haus gelebt, sie hätte ihn gerne geheiratet und seine Kinder bekommen. Liebend gerne hätte sie eine Rolle bei der Weiterführung eines Namens und Besitzes einer altehrwürdigen Familie gespielt. Sie stellte sich im Geiste bereits vor, wie sie das Haus wieder auf Vordermann bringen würde, wie ihre Kinder im Garten herumtollen würden. Das deutete sie Inge gegenüber vorsichtig an, als sie ihr beim Kochen half: »Es muss wunderschön sein, in diesem Haus zu wohnen und hier die Kinder aufwachsen zu sehen.«
Daraufhin musterte diese sie kurz und meinte: »Ich glaube nicht, dass Sie zu diesem Haus passen.« Das war’s, mehr nicht, dass sie damit auch implizierte, Mathilda passe nicht zu Xaver, verstand sich von selbst, denn für sie waren Xaver und das Haus untrennbar miteinander verbunden.
Inge musste es Xaver erzählt haben, denn er machte Mathilda im Zug ein gewaltiges Theater und setzte sich dann in ein anderes Abteil, sie blieb am Boden zerstört zurück, zittrig und mit zerfahrenen Gesten, sie dachte, der Wunsch nach Trennung, den er ausgesprochen hatte, sei endgültig. Am Bahnhof gingen sie beide getrennte Wege, jeder fuhr in seine Wohnung. Nach zwei Tagen tauchte er wieder auf, entschuldigte sich bei ihr und verlangte, dass sie sich nie wieder auf die Seite seiner Mutter stellte, das wäre eine Bedingung ihrer Beziehung, dann aß er bei ihr zu Abend. Er sei ein Stadtmensch, er würde nie in dieses Haus ziehen.
Kein einziges Mal mehr machte sie irgendeine Andeutung, dass Inges Wünsche ihren eigenen sehr entgegenkamen. Wenn Xaver Inge besuchte, fuhr sie nicht mehr mit, denn sie wären sich ohnehin bei der Rückfahrt nur in den Haaren gelegen, er rastlos, sie deprimiert. Nur einmal im Jahr hielt sie einen Anstandsbesuch für nötig und kam mit, meistens im Sommer.
Viele Jahre später, Xaver und sie waren beide über dreißig, machte Inge einen Schritt auf sie zu. Sie hatte sich im letzten Jahrzehnt stark verändert, wirkte verwelkt und kleinlaut, ihr Sohn hatte bis dahin kein Studium abgeschlossen, war kein erfolgreicher Schriftsteller und dachte nicht daran, in das Haus zu ziehen oder sich fortzupflanzen. Zaghaft fragte sie Mathilda, warum sie denn nicht endlich heiraten und hier einziehen würden, ein Gymnasium, in dem sie unterrichten könnte, gebe es in der nächsten Kleinstadt, ob sie denn nicht Xaver dahingehend beeinflussen könnte. Mathilda konnte nur mit den Achseln zucken, Xaver wäre um nichts in der Welt einverstanden gewesen.
XAVER ERZÄHLT MATHILDA EINE GESCHICHTE
Als Richard am 24. Dezember 1918 am Grab seiner Mutter und seines Bruders stand, hörte er hinter sich ein Bellen, er drehte sich um, sah einen alten Schäferhund vor sich stehen und daneben eine schlanke blonde Frau mit großen blauen Augen und Sommersprossen. Sie sagte leise: »Richie hat gut auf mich aufgepasst«, und da fiel es ihm schlagartig ein, das Bild, das er auf der Schiffsreise und in Ellis
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