Deutschlehrerin
Island mit sich getragen und dann im neuen Leben so völlig vergessen hatte: die barfüßige vierzehnjährige Anna, die im hohen Gras auf ihn zulief, hinter ihr der Welpe.
Anna besuchte ihn mehrmals in der Woche und half von Anfang an tatkräftig mit, das neue Haus aufzubauen, sie bekochte Familie und Arbeiter, sie wusch Wäsche, sie pflegte den kranken Vater, sie war mit ihrer stillen Art zur Stelle, wenn etwas gebraucht wurde, Richard staunte über ihren Fleiß und verliebte sich in sie. Dass sie ihn liebte, daraus machte sie kein Hehl, sie gestand ihm sehr schnell, dass sie gehofft habe, er würde zurückkommen, dass sie es sogar geahnt habe; ihren Körper jedoch verweigerte sie ihm, den gebe es nur nach einer Hochzeit, sagte sie, und auch das bewunderte er.
Und so steht er im Oktober 1919 vor den Steinmauern, die ein Haus werden sollen, sein Haus?, und ringt um eine Entscheidung. Welches Leben soll er wählen, mit welcher Frau soll er alt werden? Er weiß es noch nicht und gibt sich Zeit. Die Zeit soll es entscheiden, denkt er, mit der Zeit werde ich es wissen; die Zeit ist aber für Anna, denn diese ist hier und Dorothy weit weg . Wenn viele verzweifelte Briefe von Dorothy kommen, wenn jede Woche ein Brief von ihr eintrifft, in dem sie ihre Sehnsucht nach ihm beschreibt, kehre ich zu ihr zurück, denkt Richard, obwohl – habe ich ihr etwas versprochen? –, doch nach nicht einmal einem Jahr kommen keine Briefe mehr von Dorothy. Richard ist enttäuscht und verletzt, so schnell also wurde er vergessen! Er hält im Frühling 1920 um Annas Hand an. Noch vor dem Altar hat er Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, und nach der Hochzeit geht der Zweifel unter, er geht unter vor lauter Arbeit, Verantwortung und Verpflichtungen. Ob er glücklich ist, weiß er nicht, es fragt auch niemand danach.
Es kommen Kinder zur Welt, jedes Jahr eines, bis es fünf sind, Richard will nicht so viele, Anna ist streng katholisch und gegen Verhütung, Annas alte Eltern kommen ins Haus, sie können sich nicht mehr alleine versorgen, sie werden gepflegt, mit ihnen kommt der mongoloide Bruder, Karl macht Schwierigkeiten, er fordert die Auszahlung seines Erbteils, die Schwestern kommen endlich unter die Haube, eine Nachzüglerin – Ingeborg – kommt auf die Welt, ein zweiter großer Krieg kommt und richtet alles zugrunde, was man sich nach dem ersten großen Krieg wieder aufgebaut hat, zwei Söhne fallen.
Anna arbeitet und betet, betet und arbeitet, nur spricht sie nicht mit Richard, sie tanzt oder lacht oder schwimmt auch nicht mit ihm, sie geht nicht mit ihm spazieren, liest keine Zeitung mit ihm und diskutiert nicht über das Weltgeschehen, sie küsst ihn nicht vor anderen auf den Mund, sie fragt ihn nicht, ob es ihm gut geht, sie ist hager und verhärmt, für sie ist alles gottgewollt, man muss nur ein gottesfürchtiges Leben führen, dann wird alles gut. So vergeht die Zeit.
Als der Dachboden ausgebaut werden soll, findet man in der letzten Ecke eine verstaubte Schachtel mit alten Fotos und Briefen, Richard sieht sie durch und findet darunter ein paar Fotos von Dorothy und ihrer Familie, Fotos von ihnen beiden, und auch die Briefe, die sie ihm anfangs schrieb. Er liest sie staunend durch, eine Ewigkeit ist sie her, diese Zeit in Milwaukee, alles kommt ihm so weit weg und verschwommen vor, war das wirklich er? So vieles fällt ihm wieder ein, auch sein wochenlanges Ringen um die richtige Entscheidung damals, vor dreißig Jahren, er ist sechzig Jahre alt und muss sich eingestehen, dass er nicht glücklich wurde und dass er damals die falsche Entscheidung traf. Seine ältere Schwester, deren Nachricht ihn damals bewog, nach Hause zurückzukehren, findet ihn beim Studieren dieser Briefe und beichtet ihm, dass sie damals viele Briefe von Dorothy, die noch jahrelang kamen, abgefangen und verbrannt habe. Mit aller Kraft wollte sie verhindern, dass Richard ein zweites Mal wegging, er war nach dem Tod Josefs der älteste Bruder und außerdem der Geeignetere, um das Erbe der Familie Sand weiterzuführen, sie sah in Karl nicht den richtigen Mann dafür, und es war doch wichtig, dass die Familie und der Betrieb weiter bestünden und in guten Händen seien. Als sie erkennt, wie fassungslos Richard ist, meint sie, das Wohlergehen der Familie sei wichtiger als das Glück des Einzelnen, und – er hat es zu etwas gebracht, er besitzt einen großen Betrieb, hat eine wunderbare Familie, er sei ja glücklich, oder nicht?
Zwei Jahre später
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