Dexter
zuckte die Achseln, eine seltsam typische Teenager-Geste. »Oder so. Ich meine, sie werden eh bald kommen.«
Ich spürte, wie jemand mit einem Eiszapfen meine Wirbelsäule perforierte. »Wer?«
»Jemand vom Zirkel«, erklärte sie und sah mich flüchtig an. »So nennen sie sich. Die Gang. Die Gang, die Leute isst.«
Ich erinnerte mich an die Datei in dem PC . Zirkel. Ich wünschte, ich hätte sie kopiert und wäre damit geflohen. »Woher weißt du, dass sie kommen?«
Sie zuckte wieder die Achseln. »Sie müssen mich füttern. Dreimal am Tag.«
»Warum? Wenn sie dich sowieso umbringen wollen, warum kümmern sie sich dann noch um dich?«
Sie sah mich mit einem Mann-bist-du-blöd-Blick an, kombiniert mit einem Kopfschütteln. »Sie wollen mich
essen,
nicht umbringen. Sie wollen nicht, dass ich ganz dünn und krank werde. Ich werde irgendwie angefüttert, gemästet, wegen dem Geschmack.«
Eingedenk meiner Arbeit und meines Hobbys kann ich, ohne zu prahlen, behaupten, dass ich über einen starken Magen verfüge, aber nun stand er wirklich auf dem Prüfstand. Die Vorstellung, dass sie begeistert drei herzhafte Mahlzeiten täglich zu sich nahm, um den Geschmack ihres Fleischs zu verbessern, war mir vor dem Frühstück etwas zu viel, weshalb ich mich wieder abwandte. Doch zum Glück für meinen Appetit drängte sich mir plötzlich ein Gedanke auf. »Wie viele kommen denn?«
Sie sah mich an und senkte dann den Blick. »Ich weiß nicht. Meistens zwei. Für alle Fälle, weißt du, falls ich meine Meinung ändern sollte und versuche abzuhauen. Aber …« Sie sah mich an. Und dann ihre Füße. »Ich glaube, diesmal wird Vlad dabei sein«, meinte sie endlich, und sie klang nicht besonders glücklich.
»Warum glaubst du das?«
Sie schüttelte den Kopf, sah aber nicht auf. »Als Tyler an der Reihe war, ist er mitgekommen. Und er hat irgendwie …
Sachen
mit ihr gemacht.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, sah aber nach wie vor nicht auf. »Nicht einfach irgendwie … keinen Sex. Ich meine, keinen normalen Sex. Er hat ihr echt weh getan. Als ob ihn das anmachen würde, und …« Sie schauderte, und endlich hob sie den Blick. »Ich glaube, darum mischen sie mir Beruhigungsmittel ins Essen. Damit ich ruhig und gelassen bleibe. Weil sonst …« Sie wandte den Blick ab. »Vielleicht kommt er ja gar nicht.«
»Aber mindestens zwei Männer kommen auf jeden Fall?«, hakte ich nach.
Sie nickte. »Ja.«
»Sind sie bewaffnet?«
Sie sah mich verständnislos an.
»Du weißt schon, Messer, Pistole, Maschinengewehr? Tragen sie irgendwelche Waffen?«
»Keine Ahnung. Ich meine, ich an ihrer Stelle würde.«
Ich dachte, ich würde das auch, und obgleich der Gedanke ein wenig lieblos erscheinen mag, dachte ich außerdem, dass ich bemerkt hätte, was für Waffen meine Wärter trugen. Aber natürlich betrachte ich mich auch nicht als Festschmaus, was meine Fähigkeit zur Beobachtung sicherlich beeinflusst.
Also zwei, beide vermutlich bewaffnet, was wahrscheinlich Schusswaffen bedeutete, schließlich befanden wir uns in Miami. Außerdem vielleicht noch Bobby Acosta, auch irgendwie bewaffnet, immerhin war er ein wohlhabender Flüchtling. Und ich in einer kleinen Kammer, zu klein, um sich zu verstecken, und außerdem mit Samantha belastet, die vermutlich »Passt auf!« brüllen würde, wenn ich sie zu überrumpeln versuchte. Zu meinen Gunsten sprachen mein reines Herz und die verbogene Brechstange.
Das war nicht viel, doch habe ich gelernt, dass man stets eine Möglichkeit findet, seine Chancen zu verbessern, wenn man sich nur gründlich genug mit einer Situation auseinandersetzt. Ich stand auf und sah mich in der Kammer um, vielleicht hatte ja jemand ein Gewehr in einem der Regale vergessen. Ich zwang mich sogar, die Behälter anzufassen und dahinter nachzusehen, doch war mir kein Glück beschieden.
»He«, sagte Samantha. »Falls du das glaubst, oder so … Ich meine, ich will auf keinen Fall gerettet werden, ja?«
»Das finde ich wunderbar«, lobte ich. »Ich tue es aber trotzdem.« Ich sah sie an, wie sie dort mit ihrer Decke um die Schultern kauerte. »Ich will nicht gegessen werden. Ich habe ein Leben und eine Familie. Ich habe eine neugeborene Tochter, die ich wiedersehen will. Ich will erleben, wie sie aufwächst, und ich will ihr Märchen vorlesen.«
Sie zuckte ein wenig zusammen und wirkte verunsichert. »Wie heißt sie?«
»Lily Anne.«
Samantha wich meinem Blick aus, doch konnte ich erkennen, dass
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