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Dexter

Dexter

Titel: Dexter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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auf einen Stuhl zu setzen. Sie nahm Platz, als hätte sie das schon oft getan.
    Ich sah zurück. Special Agent Recht und ihr Prototyp-Begleiter drängten sich in Richtung Tür, während Deborah eifrig darauf bedacht war, sie nicht zu bemerken. Stattdessen plauderte sie angeregt mit Mr. Aldovar. Angel-keine-Verwandtschaft stand auf der Terrasse direkt vor der gläsernen Schiebetür und untersuchte die Scheibe auf Fingerabdrücke. Und ich wusste, dass ein kurzes Stück den Flur hinunter der riesige Blutfleck noch immer die Wand zierte und nach Dexter rief. Das war meine Welt, dieses Land der Gewalt, Wunden und des Chaos. Ich hatte sowohl privat als auch beruflich mein gesamtes Leben darin verbracht.
    Aber heute hatte es den rosigen Schimmer eingebüßt, der mich über so viele Jahre bezaubert hatte. Ich wollte nicht hier sein und in den Überresten der übermütigen Raserei eines anderen stöbern – und mehr noch, ich wollte nicht einmal selbst sorglos darin tollen. Heute brauchte ich andere Aussichten. Ich war nur widerwillig an meine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt, aus Pflichtgefühl gegenüber Deborah, und jetzt wollte ich zurück in meine neue Heimat, wo alles strahlend schön war, in das Land von Lily Anne.
    Deborah sah auf, ohne mich wirklich wahrzunehmen, und konzentrierte sich dann wieder auf Mr. Aldovar. Für sie gehörte ich zur Szenerie, war Teil des Tatorts, Dexter als Hintergrund. Genug. Es war Zeit für mich, zu verschwinden und zu dem Wunder Lily Anne zurückzukehren.
    Und so glitt ich aus der Tür, ohne mich mit unbeholfenen Abschiedsbekundungen aufzuhalten, und lief zu meinem Auto, das sich nach wie vor an den Müllcontainer schmiegte.
    Mein Weg zum Krankenhaus führte durch die Ouvertüre des Feierabendverkehrs, eine magische Zeit, in der ein jeder glaubt, Anspruch auf sämtliche Fahrbahnen gleichzeitig zu besitzen, weil er früh Feierabend gemacht hat. In meiner früheren Existenz hatte mir der Anblick so intensiver Lebensverachtung großes Vergnügen bereitet, heute ließ er mich kalt. Diese Leute gefährdeten einander, was ich in einer Welt, in der ich schon sehr bald Lily Anne zur Ballettstunde fahren würde, nicht tolerieren konnte. Ich selbst fuhr vorsichtige zehn Meilen über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit, was einzig dazu führte, andere Fahrer zur Weißglut zu treiben. Sie rasten beiderseits an mir vorüber, hupend und mit ausgestreckten Mittelfingern, doch ich hielt entschlossen an meiner vernünftigen und sicheren Fahrweise fest, und schon bald hatte ich das Krankenhaus erreicht, ohne in einen Schusswechsel verwickelt zu werden.
    Als ich auf der Entbindungsstation aus dem Fahrstuhl stieg, hielt ich eine Sekunde inne, während das schwache Echo eines Wisperns an den Mauern von Dexters düsteren Verliesen raschelte. An dieser Stelle hatte ich beinahe jemanden erblickt, der mich vielleicht aus irgendeinem Grund beobachtete. Doch dieser Gedanke klang so lächerlich, dass ich nicht mehr tun konnte, als den Kopf zu schütteln und ein distanziertes
ts, ts
an den Passagier zu senden. »Beinahe jemand«, also wirklich. Ich ging weiter und bog um die Ecke zum Säuglingszimmer.
    Meine neuen Freunde vor der Sichtscheibe waren verschwunden, ersetzt durch eine frische Herde, und auch Lily Anne war nicht länger auf der anderen Seite des Fensters zu sehen. Ich erlebte einen Moment verstörender Desorientierung – wohin war sie verschwunden? –, doch dann stellte sich die Logik wieder ein. Selbstverständlich – mehrere Stunden waren vergangen. Man würde sie nicht so lange allein hier liegen lassen und zur Schau stellen. Lily Anne war bei ihrer Mutter, um zu trinken und die Bindung zu stärken. Ich spürte ein kurzes Aufwallen von Eifersucht. Rita würde eine elementare und intime Bindung zu dem Baby aufbauen, die ich niemals erleben konnte – ein Vorsprung um Lilys Zuneigung.
    Doch glücklicherweise vernahm ich das leise, spöttische Kichern in meinem Inneren, und ich musste ihm beipflichten.
Komm schon, Dexter, nur weil du plötzlich beschlossen hast, Gefühle zu hegen, solltest du wirklich nicht mit Brustneid beginnen. Deine Rolle ist ebenso wichtig: feste und liebevolle Führung auf dem Dornenpfad durch Lilys Leben.
Und wer wäre dafür besser geeignet als ich, der auf dem verschlungenen Pfad gelebt und die Dornen genossen hatte und der jetzt nichts mehr wollte, als ihr unverletzt durch das Dickicht zu helfen? Wer, um es kurz zu machen, anders als der nicht länger demente Daddy

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