Dexter
und damit auch Lily Anne? Ich versuchte, logisch zu denken, etwas, worin ich früher ziemlich gut war. Selbstverständlich, versicherte ich mir, lag es nicht nur an dem anonymen Strauß – ich hatte das Alarmsignal vorhin schon einmal bei der möglichen Sichtung eines potenziellen Jemands gehört. Und als ich alles zusammenzählte, wurde mir klar, was ich hatte: ein äußerst schwammiges »Vielleicht, möglicherweise aber auch nicht«, das eine tatsächliche Bedrohung sein konnte. Oder auch nicht. Oder so.
Auf diese Weise betrachtet, in klarer und logischer Form, ergab das für mich genug Sinn, um mich unbehaglich zu fühlen. Lily Anne wurde von einem Irren verfolgt.
Mir.
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5
I ch verbrachte eine Stunde bei Rita und sah Lily Anne beim Schlafen, Krähen und Trinken zu. Objektiv betrachtet nicht gerade viel an Aktivität, aber dennoch wesentlich vergnüglicher und interessanter, als ich mir hätte vorstellen können. Ich nehme an, es ist nicht mehr als eine Spielform des Egoismus, sein eigenes Baby so überaus faszinierend zu finden – andere Babys habe ich mit Sicherheit nie besonders anziehend gefunden –, aber was immer das über mich aussagt, jetzt tat ich es, und es gefiel mir.
Rita döste und erwachte nur einmal, als Lily für wenige Sekunden zuckte und mit den Beinchen ruderte. Ein paar Minuten später runzelte Rita die Stirn, schlug die Augen auf und sah auf die Wanduhr über der Tür.
»Die Kinder«, mahnte sie.
»Ja«, erwiderte ich, während ich zusah, wie Lily Anne in Reaktion auf Ritas Stimme ein winziges Händchen öffnete und schloss.
»Dexter, du musst Cody und Astor abholen«, insistierte sie. »Aus der Nachmittagsbetreuung.«
Ich zwinkerte. Tatsächlich: Die Betreuung endete um achtzehn Uhr, und die jungen Frauen, die dort arbeiteten, reagierten ab einer Viertelstunde Verspätung ausgesprochen verdrießlich. Die Uhr verkündete zehn vor sechs. Ich würde es gerade noch schaffen.
»In Ordnung«, sagte ich und stand auf, während ich mich widerstrebend von der Betrachtung meines Babys losriss.
»Bring die beiden her«, sagte Rita, und sie lächelte. »Sie müssen ihre neue Schwester kennenlernen.«
Ich ging hinaus, die wunderbare Szene bereits vor Augen: Cody und Astor, die leise das Zimmer betraten, die kleinen Gesichter strahlend vor Liebe und Staunen, und zum ersten Mal das winzige Wunder erblickten: Lily Anne. Ich sah das Bild glasklar vor mir, erschaffen aus dem kombinierten Genie eines Leonardo da Vinci und Norman Rockwell, und ich lächelte, als ich den Flur hinunter zum Fahrstuhl schlenderte. Das Lächeln war
echt.
Ein echter, menschlicher, nicht vorgetäuschter Ausdruck. Cody und Astor würden in Kürze mit Sicherheit dasselbe erfreute Lächeln zeigen, während sie auf ihre neue Schwester hinunterblickten und ihnen ebenso wie mir aufging, dass ein Leben auf dem Dunklen Pfad nicht länger vonnöten war.
Denn Cody und Astor waren ebenfalls dazu verdammt gewesen, in den Schatten zu leben, Ungeheuer wie ich, in die Dunkelheit geschleudert vom brutalen Missbrauch ihres leiblichen Vaters. Und ich in meinem bösartigen Stolz hatte versprochen, ihre kleinen Füße auf den Harry-Pfad zu lenken, sie zu lehren, wie man ein in Sicherheit lebendes, dem Code gehorchendes Raubtier wurde, so wie ich eines war. Doch die Ankunft von Lily Anne hatte alles verändert. Auch sie würden erkennen müssen, dass alles neu und anders war. Es gab keinen Anlass mehr zum Schlagen und Schlitzen. Und wie durfte ich in dieser schönen neuen Welt auch nur daran denken, ihnen bei ihrem Absturz in den grauenhaften Abgrund von Tod und Entzücken zu helfen?
Das durfte ich nicht; alles war neu. Ich würde sie zum Licht führen, ihre Füße auf den Pfad zum Guten Leben lenken, und sie würden zu vernünftigen, aufrechten menschlichen Wesen heranwachsen, oder zumindest zur bestmöglichen Imitation. Menschen konnten sich ändern – veränderte ich mich nicht auch, direkt vor meinen eigenen Augen? Ich hatte bereits ein Gefühl durchlebt und wahrhaft gelächelt; alles war möglich.
Zutiefst von dem echten menschlichen Vertrauen erfüllt, dass sich alles in Wohlgefallen auflösen würde, fuhr ich zur Nachmittagsbetreuung, die in einem Park in der Nähe unseres Hauses angeboten wurde. Der Verkehr war dicht und mörderisch, und mich überkam eine weitere Erleuchtung, was die Fahrer Miamis antreibt. Diese Menschen sind nicht zornig – sie haben Angst. Auf jeden von ihnen wartet zu Hause jemand, jemand, den sie
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