Dexter
damit, es wäre nicht deine Schuld?«, herrschte sie mich an. »Das hat doch auch niemand behauptet … Wie könnte es überhaupt deine Schuld sein?«
Wieder einmal hatte ich den Eindruck, dass alle außer mir das Drehbuch gelesen hatten und ich als Einziger improvisieren musste.
»Ich habe nur … nichts«, erwiderte ich, voller Hoffnung auf einen Hinweis, was ich als Nächstes sagen sollte.
»Heilige Scheiße«, sagte sie. »Warum geht es immer nur um dich?«
Ich nehme an, ich hätte antworten können:
Weil ich aus irgendeinem Grund immer mitten im Schlamassel stecke, normalerweise gegen meinen Willen, nur weil du mich dazu gezwungen hast,
aber meine Vernunft siegte. »Tut mir leid. Was ist denn los, Debs?«
Sie starrte mich noch einen Moment an, dann schüttelte sie den Kopf und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Samantha Aldovar«, wiederholte sie. »Sie ist wieder verschwunden.«
Hin und wieder denke ich, wie gut es ist, dass ich so lange Jahre Übung darin habe, mein Mienenspiel nur das verraten zu lassen, was ich zeigen möchte. Wie zum Beispiel in diesem Augenblick, denn mein erster Impuls war, »Juhuuu! Braves Mädchen!« zu rufen und ein fröhliches Lied zu trällern. Weshalb es möglicherweise eine der größten schauspielerischen Leistungen war, die die Welt je gesehen hat, als es mir stattdessen gelang, Schrecken und Besorgnis zu demonstrieren. »Du machst Witze«, sagte ich, während ich dachte:
Das ist hoffentlich kein Scherz.
»Sie ist heute nicht zur Schule gegangen, weil sie sich erholen sollte«, berichtete Deborah. »Ich meine, immerhin hat sie ja einiges durchgemacht.« Meiner Schwester fiel offensichtlich nicht auf, dass ich noch mehr durchgemacht hatte, aber niemand ist perfekt. »Gegen vierzehn Uhr ist ihre Mutter einkaufen gefahren, und als sie zurückkam, war Samantha verschwunden.« Deborah schüttelte den Kopf. »Sie hat eine Nachricht hinterlassen. ›Sucht nicht nach mir; ich komme nicht zurück.‹ Sie ist abgehauen, Dex. Einfach weggerannt.«
Ich fühlte mich so viel besser, dass es mir sogar gelang, die impulsive Antwort »Ich hab’s dir ja gleich gesagt« zu unterdrücken. Immerhin hatte Deborah meinen Versicherungen, dass Samantha sich freiwillig, ja begeistert in kannibalische Gefangenschaft begeben hatte, keinen Glauben geschenkt. Dabei war völlig einleuchtend, dass sie bei erster Gelegenheit von zu Hause weglief. Es war zwar kein sonderlich nobler Gedanke, aber ich hoffte, dass sie ein gutes Versteck fand.
Deborah seufzte tief und schüttelte wieder den Kopf. »Ich habe noch nie gehört, dass das Stockholm-Syndrom eine Geisel dazu gebracht hat, zu ihrem Entführer zurückzukehren.«
»Debs«, erwiderte ich, und jetzt konnte ich wirklich nicht mehr an mich halten. »Ich hab’s dir doch gesagt. Das ist kein Stockholm-Syndrom. Samantha
will
gegessen werden. Das ist ihr Traum.«
»Blödsinn«, erwiderte Debs wütend. »Niemand will das.«
»Und warum ist sie dann wieder weggerannt?«, fragte ich, aber sie schüttelte nur den Kopf und betrachtete ihre Hände.
»Ich weiß nicht.« Sie starrte die Hände in ihrem Schoß an, als stände die Antwort auf ihren Knöcheln geschrieben, dann straffte sie sich. »Das ist auch unwichtig. Wichtig ist nur,
wohin
sie gegangen ist.« Sie sah zu mir auf. »Wohin würde sie gehen, Dexter?«
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, war mir vollkommen gleichgültig, wo Samantha sich aufhielt, Hauptsache, sie blieb dort. Aber ich musste antworten.
»Was ist mit Bobby Acosta?«, schlug ich vor, immerhin ein einleuchtender Gedanke. »Habt ihr ihn schon erwischt?«
»Nein«, antwortete sie äußerst mürrisch und zuckte die Achseln. »Er kann nicht auf ewig untertauchen. Wir machen zu viel Druck. Aber trotzdem …« Sie hob die Hände. »Seine Familie hat Geld und politische Beziehungen, und sie glaubt, sie könnte ihn schützen.«
»Kann sie das?«
Deborah betrachtete ihre Knöchel. »Vielleicht … Scheiße, ja, vermutlich. Wir haben Zeugen, die ihn mit Tyler Spanos’ Wagen in Verbindung bringen – aber vor Gericht macht ein guter Anwalt innerhalb von zwei Sekunden Hackfleisch aus den beiden Haitianern. Außerdem ist er vor mir geflohen, aber das bedeutet auch nicht viel. Der Rest sind Vermutungen und Gerüchte und … Scheiße, ja, ich glaube, er könnte freikommen.« Sie nickte vor sich hin und betrachtete erneut ihre Hände. »Ja, sicher, Bobby Acosta wird freikommen«, sagte sie leise. »Wieder. Und so wird niemand dafür
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