Dexter
vollkommenen Händchen, ja, selbst die Art, wie sie weinte. Und Rita schluckte absolut alles, lächelte, nickte und knöpfte sogar ihre Bluse auf, um Lily Anne vor unser aller Augen zu füttern.
Insgesamt war es einer der unerfreulichsten Abende seit – tja, ehrlich gesagt, seit meinem letzten Zusammentreffen mit Brian. Dass ich absolut nicht wusste, was ich sagen oder tun sollte, machte alles noch schlimmer – was zum Teil daran lag, dass ich auch nicht wusste, was ich eigentlich so abstoßend fand. Immerhin waren wir, wie Rita nicht müde wurde zu betonen, eine Familie. Warum sollten wir also nicht zusammensitzen und einander munter anlügen? Das tun Familien doch, nicht wahr?
Als Brian gegen neun Uhr endlich aufstand, um sich zu verabschieden, waren Rita und die Kinder von ihrem neuen Verwandten Onkel Brian völlig hingerissen. Ihr alter Verwandter – der abgewetzte, ängstliche Daddy Dexter – war anscheinend als Einziger nervös, unruhig und unsicher. Ich begleitete Brian zur Haustür, wo Rita ihn fest umarmte und ihn bat, doch bitte so oft wie möglich wiederzukommen, und Cody und Astor reichten ihm auf eine Weise die Hände, die man nur als anbiedernd bezeichnen konnte.
Natürlich hatte ich keine Möglichkeit gefunden, mit Brian unter vier Augen zu sprechen, da er den ganzen Abend von der bewundernden Menge umlagert worden war. Deshalb ergriff ich die Gelegenheit und begleitete ihn zum Wagen, nachdem ich die Tür fest vor seinen Groupies verschlossen hatte.
Ehe er in sein kleines rotes Auto stieg, drehte er sich zu mir um und sah mich an.
»Was für eine reizende Familie du hast, Bruder«, bemerkte er. »Häusliche Vollkommenheit.«
»Ich weiß immer noch nicht, warum du hier bist.«
»Nicht? Ist das nicht offensichtlich?«, erwiderte er.
»Schmerzhaft offensichtlich. Aber absolut nicht klar.«
»Ist es so schwer zu glauben, dass ich gern zu einer Familie gehören möchte?«, fragte er.
»Ja.«
Er legte den Kopf schief und musterte mich vollkommen ausdruckslos. »Aber das war es doch, was uns beim ersten Mal zusammengeführt hat. Ist das nicht vollkommen natürlich?«
»Kann sein. Aber
wir
sind es nicht.«
»Leider nur allzu wahr«, stimmte er mir mit seiner üblichen Melodramatik zu. »Aber nichtsdestotrotz denke ich darüber nach. Über dich. Meinen einzigen Blutsverwandten.«
»Soweit wir wissen«, korrigierte ich, und zu meiner Überraschung sagte er genau dasselbe in genau demselben Moment, und auch er lächelte breit, als er es bemerkte.
»Siehst du?«, meinte er. »Die DNA kann man nicht verleugnen. Wir haben uns am Hals, Bruder. Wir sind eine Familie.«
Und obgleich dieser Satz den ganzen Abend endlos wiederholt worden war und trotzdem er sogar noch in meinen Ohren widerhallte, als Brian längst gefahren war, trug er nichts dazu bei, mich zu beruhigen. Als ich zu Bett ging, spürte ich nach wie vor das Trippeln banger Füßchen an meinem Rückgrat.
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11
I ch verbrachte eine unruhige Nacht, kurze Flicken des Schlafs, unterbrochen von langen Morasten ruheloser Schlaflosigkeit. Ich hatte das Gefühl, von einer namenlosen Bedrohung angegriffen zu werden, einem schrecklichen, lauernden Ding, gereizt vom stimmlosen Unbehagen des Passagiers, der dieses eine Mal ebenso unsicher, ebenso verwirrt schien wie ich. Möglicherweise hätte ich das Biest in seinen Käfig sperren und einige Stunden segensreicher Bewusstlosigkeit genießen können – jedoch gab es noch Lily Anne.
Liebe, süße, kostbare, unersetzliche Lily Anne, Herz und Seele von Dexters neuem, menschlichem Ich, die neben ihrem offensichtlichen Liebreiz noch weitere verborgene Talente besaß. Sie hatte ein wunderbar kräftiges Paar Lungen und schien entschlossen, dieses Geschenk mit uns allen zu teilen, alle zwanzig Minuten, die ganze Nacht. Und durch irgendeinen Trick der boshaften Natur fielen meine kurzen Zwischenspiele, bei denen es mir gelang, in echten Schlaf zu sinken, mit Lily Annes Weinattacken zusammen.
Rita schien von dem Lärm gänzlich ungerührt. Jedes Mal, wenn das Baby weinte, sagte sie: »Bring sie mir, Dexter«, anscheinend ohne aufzuwachen, und dann fielen die beiden wieder in Schlaf, bis Rita, wiederum ohne die Augen zu öffnen, murmelte: »Leg sie wieder hin, bitte«, und ich zur Wiege taumelte, Lily Anne hineinlegte und sie sorgsam zudeckte, während ich sie stumm anflehte, bitte,
bitte,
wenigstens eine kurze Stunde zu schlafen.
Doch legte ich mich in der Dunkelheit und vorübergehenden Stille
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