Dexter
rasten. »Es ist kompliziert, Dexter«, sagte sie schließlich.
»Das scheint mir auch so.«
»Ich fühle mit dem Kind. Vielleicht, weil sie so verletzlich ist wie ich gerade auch.« Sie starrte auf die Straße, schien sie aber nicht wirklich wahrzunehmen, was ich ein wenig alarmierend fand. »Und dazu dieser ganze andere Kram. Ich weiß nicht.«
Vielleicht lag es daran, dass ich mich in einem Wagen festklammerte, der mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Verkehr schoss, aber irgendetwas musste mir entgangen sein. »Was für anderer Kram?«
»Ach, du weißt schon«, meinte sie, obwohl ich gerade mit aller Deutlichkeit erklärt hatte, dass dem nicht so war. »Dieser Familienscheiß. Ich meine …« Plötzlich zog sie ein finsteres Gesicht und sah mich an. »Wenn du auch nur ein Wort zu Vince oder jemand anderem darüber sagst, dass meine biologische Uhr tickt, bring ich dich um, ich schwöre.«
»Aber tickt sie denn?«, fragte ich leicht erstaunt.
Deborah funkelte mich kurz an, sah dann aber zum Glück für Leib und Leben wieder auf die Straße. »Sicher. Ich glaube, ich will wirklich eine Familie, Dex.«
Ich nehme an, ich hätte ihr, basierend auf meinen Erfahrungen, ein paar Worte des Trostes sagen können, in der Art, dass Familie überschätzt werde und Kinder nur ein übler Trick seien, um uns alle vor unserer Zeit altern und durchdrehen zu lassen. Stattdessen dachte ich an Lily Anne und wünschte plötzlich, dass meine Schwester ihre Familie bekam, damit sie all die Dinge fühlte, die ich gerade zu fühlen lernte. »Tja«, setzte ich an.
»Scheiße, das ist unsere Abfahrt.« Deborah riss den Wagen nach rechts und zerstörte so äußerst effektiv die Stimmung, abgesehen davon, dass ich keine Ahnung mehr hatte, was ich eigentlich hatte sagen wollen. Das Schild, das scheinbar nur wenige Zentimeter an meinem Kopf vorbeiraste, verriet mir, dass wir nach North Miami Beach unterwegs waren, ein Viertel bescheidener Häuser und Geschäfte, das sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert hatte. Ein sehr seltsames Viertel für einen Kannibalen, wie mir schien.
Deborah bremste ab und reihte sich in den Verkehr am Ende der Abfahrt ein. Wir fuhren mehrere Blocks nach Osten, dann ein paar nach Norden, und schließlich steuerte sie auf ein Wohngebiet zu, in dem die Anwohner die Straßen mit Hecken gesperrt hatten, abgesehen von der Hauptstraße. Diese Praxis war in diesem Teil der Stadt allgemein üblich geworden, man wollte damit Verbrechen verhindern. Niemand hatte mir verraten, ob es funktionierte.
Wir fuhren durch die Einfahrt der Minigemeinde und zwei Blocks weiter, ehe Debs auf dem Rasen vor einem bescheidenen, blassgelben Haus hielt und den Motor abstellte. »Das ist es«, sagte Deborah. »Der Typ heißt Victor Chapin. Er ist zweiundzwanzig. Das Haus gehört Mrs. Arthur Chapin, dreiundsechzig. Sie arbeitet im Stadtzentrum.«
Ich betrachtete das kleine Haus. Es wirkte leicht verblichen und absolut gewöhnlich. Keine Schädel im Vorgarten, keine Abwehrzauber auf den blassgelben Wänden, nichts wies darauf hin, dass hier das Böse lauerte. In der Einfahrt stand ein zehn Jahre alter Ford Mustang, und absolut alles wirkte ruhig und vorstädtisch.
»Er wohnt bei seiner Mutter?«, fragte ich. »Dürfen Kannibalen das denn?«
Sie schüttelte den Kopf. »Dieser tut es«, antwortete sie und öffnete die Tür. »Los, komm.«
Deborah stieg aus und marschierte rasch zur Haustür, und ich musste daran denken, wie ich schon einmal in einem Auto gesessen und zugesehen hatte, wie sie allein zu einer Tür lief und niedergestochen wurde – weshalb ich rasch ausstieg und sie einholte, als sie gerade auf die Klingel drückte. Aus dem Inneren des Hauses hörten wir die dramatische Tonfolge eines kunstvollen Glockenspiels, die ich nicht ganz einzuordnen wusste. »Sehr schön«, lobte ich. »Wagner, glaube ich.«
Deborah schüttelte nur den Kopf und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf die Zementstufe.
»Vielleicht sind beide zur Arbeit«, bot ich an.
»Ausgeschlossen. Victor arbeitet in einem Nachtclub«, erklärte Debs. »In South Beach, der Laden heißt
Fang.
Vor dreiundzwanzig Uhr machen die gar nicht auf.«
Einen kurzen Moment spürte ich ein Zucken im untersten Geschoss meiner tiefsten und düstersten Verliese.
Fang.
Ich war schon mal darüber gestolpert, aber wo? In der
New York Times?
In einem von Vince Masuokas langatmigen Erzählungen über nächtliche Barbesuche? Es fiel mir nicht ein, und ich
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