Dezembergeheimnis
aber offensichtlich nicht dazu entschied nachzufragen und stattdessen seine Aufmerksamkeit der Plüschfiguren- und Plastiktiersammlung in ihrem Regal widmete. »Beachtlich.«
»Der ganze Stolz meines zehnjährigen Ichs.«
»Und die Bücher? Warum hast du sie nicht mitgenommen?«
Lea stand auf, ging zu ihm und deutete auf die unterste Reihe. »Meine Lieblingsbücher, als ich zehn war. Meine Lieblingsbücher, als ich vierzehn war«, dabei wanderte der Finger eine Etage höher, danach noch eine, »sechzehn«, und die letzte Reihe, »und mit achtzehn. Sie gehören einfach hierher, deswegen.«
Noel nickte nachdenklich. »Ich verstehe.« Mit einem herumschweifenden Blick ließ er sich auf ihrem Kinderschreibtischstuhl nieder.
»Irgendwie passt es genau zu dir und dann doch wieder überhaupt nicht.« Er lehnte sich zurück, fuhr sich durch die Haare und sah Lea an. »Du bist erwachsen geworden.«
»Ja und nein«, erwiderte sie mit einem Lächeln. Die Arme herumschwingend ging sie zum Bett, setzte sich auf die Kante und ließ sich auf den Boden gleiten. »Wir werden alle älter und sicher auch klüger. Aber erwachsen doch hoffentlich nicht.«
»Fast alle werden älter«, pflichtete Noel ihr bei.
»Auch du.« Lea senkte den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Er hielt dem Kontakt jedoch nicht lange stand, sondern drehte sich zumSchreibtisch, stützte beide Ellenbogen auf und sah aus dem Fenster. Gerade als Lea fragen wollte, was mit ihm los war, kam er ihr zuvor.
»Hast du damals schon angefangen zu schreiben?«
»Ja. So um die fünfzehn rum, aber das war alles furchtbar.«
»Ich würde es gerne lesen.«
»Das glaube ich dir gerne – um mich auszulachen.« Sie schmunzelten beide und Lea war, als würde ihr ein riesiges Gewicht von den Schultern fallen, als könnte sie durch ein kleines Lachen plötzlich wieder frei atmen.
»Wann hast du aufgehört? Und warum?« Noel hatte ihr immer noch den Rücken zugedreht, aber Lea war schon froh, dass er überhaupt wieder halbwegs ordentlich mit ihr sprach.
»Puh … als ich in der Bibliothek angefangen habe, schätze ich. Da ist mir irgendwie die Muse ausgegangen.« Sie überlegte einen Moment, dann setzte sie hinterher: »Aber ich hab wieder angefangen. Seit du da bist.«
Nun drehte sich Noel wieder um. Mit überraschter Miene fragte er: »Wirklich?«
Lächelnd nickte sie. »Das ist auch der Grund für die Reise nächste Woche. Frau Löwenberger kennt meine Geschichten und will mich jemandem vorstellen. Sie will mir helfen, wieder einen Fuß in die Verlagswelt zu bekommen.«
»Das«, Noels Blick flatterte wieder nach unten, »ist sehr nett von ihr. Wirklich sehr nett. Ich hoffe, ihr habt Erfolg. Du hast es verdient.«
»Danke«, nuschelte Lea. Die nette Gesprächszeit war offensichtlich wieder vorbei. Für ein paar Minuten kehrte die unangenehme Stille zu ihnen zurück. Bis Lea die Zähne zusammenbiss. »Warum bist du so böse auf mich?«
Noel atmete tief ein und aus, aber anstatt zu antworten, stand er auf und setzte sich neben Lea auf den Boden. Er streckte die Beine lang aus und legte den Kopf in den Nacken. »Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Du meinst von der Reise?«
Noel nickte. Lea wich seinem Blick aus, biss sich auf die Unterlippe und verschränkte die Arme.
»Es gab einfach nie den passenden Zeitpunkt.«
Er lachte humorlos. »Wann wäre der denn gewesen?«
»Ich wusste einfach nicht, wie ich es sagen sollte. Es ist so viel passiert mit deinem Job und alles. Und ich mach mir Sorgen … «
»Lea.«
»Stimmt doch aber! Eine ganze Woche alleine … Wie soll das gut gehen?«
Noel zögerte. »Machst du dir Sorgen, weil ich alleine sein werde oder du?«
»Ich … « Lea stockte. So hatte sie ihre Tour noch nicht betrachtet. Bisher hatte sie in Zürich immer nur die Reise gesehen; ihre
erste
Reise und vielleicht ihre neue Chance. Aber er hatte recht: Gleichzeitig bedeutete es auch eine Woche ohne Noel.
»Mir wird’s gut gehen«, murmelte sie. Dabei dachte sie daran, wie sie allein in der vergangenen Woche gelitten hatte, obwohl sie sich noch jeden Taggesehen hatten. »Uns wird es beiden gut gehen.«
»Wenn du das sagst.«
»Es ist nur für eine Woche.«
»Eine Woche kann lang werden.«
Mit einem Stöhnen ließ sie die Hände auf den Boden fallen. »Was hätte ich denn tun sollen? Es absagen? Meiner Chefin sagen, dass sie sich ihre Großzügigkeit in den Hintern stecken soll?« Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah sie ihn an. »Das
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