Dezembergeheimnis
Erste Hilfe-Kasten brachte da nichts.
Vielleicht war die Bäckerin wirklich die einzige Rettung. Wenn Lea diese Woche nicht nach Zürich gefahren wäre, hätte sie Frau Peters schon viel eher zur Rede gestellt, aber nun würde sie es nicht mehr aufschieben. Montag, wenn sie Noel zur Arbeit brachte, würde sie ihr auf den Zahn fühlen, ob sie wollte oder nicht. Es musste einfach irgendwas geben, womit sie Noels Schmerzen lindern oder eventuell sogar stoppen könnten.
Zehn Minuten bevor der Zug überhaupt im Bahnhof einrollte, konnte sie sich nicht mehr zum Sitzen zwingen und ließ sich lieber mit dem Koffer vor der Tür hin- und herschaukeln. Zu ihrer Angst gesellten sich langsam auch eine gewisse Erleichterung und Vorfreude. Sie würde Noel endlich wiedersehen. Die Telefonate waren schön gewesen und hatten sie beide viel erkennen lassen, aber die Aussicht, ihn wieder vor sich zu haben und anfassen zu können, ließ den Tumult in ihrem Bauch nur noch mehr ansteigen.
Lea hatte ihm strikt verboten, sie mit seinen Schmerzen vom Bahnhof abzuholen. Ihr Zug erreichte die Heimat gerade noch rechtzeitig, um den Nachtbus zu erwischen, der sie in einem zehnminütigen Abstand von ihrem Haus entfernt absetzte. Die ersten Meter lief sie noch, die letzten rannte sie, dass die Atemwölkchen um ihr Gesicht aufstiegen. Trotz des Koffers nahm sie im Treppenhaus immer zwei Stufen auf einmal, bis sie endlich vor der Wohnungstür stand.
Sie wollte aufschließen, aber ihre Finger zitterten zu stark. Während sie krampfhaft versuchte, den Schlüssel ins Loch zu stecken – und dabei mehr Kratzer machte als ein Einbrecher in seinen dümmsten Anfängertagen – öffnete sich die Tür. Lea erstarrte, blickte nach oben, direkt in Noels Augen. Einen kurzen Moment waren beide sprachlos.
Dann lächelte er. Und dieses Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, spiegelte beinahe ihre eigene Erleichterung wieder. Lea fiel ihm um den Hals. Sie wusste, sie sollte eigentlich Rücksicht auf seine Verletzungen nehmen, aber ihr Körper ließ sich nicht kontrollieren. Und Noel schob sie auch nicht weg, sondern drückte sie so fest an sich, dass ihre Füße fast den Boden unter sich verloren.
Sie war wieder hier, bei ihm, da wo sie hingehörte und sich sicher fühlte und für ihn da sein konnte und alles endlich zurück an seinem rechten Platz war. Er war warm und groß und roch so gut, dass sie trotz all der Angst nicht aufhören konnte zu lächeln.
»Hallo«, flüsterte sie.
»Du bist wieder da.« Er drückte sie noch mal fester, ehe er sie absetzte und die Tür hinter ihr schloss.
»Wie geht’s dir? Tut dir gerade irgendwas weh? Oder kommt und geht es wie früher?« Mit großen Augen und die Brauen besorgt hoch geschoben streichelte sie ihm über die Wange. Er legte seine Hand über ihre und lächelte. »Es kommt und geht. Jetzt gerade geht es mir besser als die ganze Woche.«
Lea sah nach unten und lächelte. »Hast du gegessen? Hast du Hunger?«
»Ich hab was gegessen, aber im Moment würde ich sterben für einen deiner Teige.«
Mit einem Strahlen in den Augen ging sie in die Küche und rührte, ohne überhaupt auszupacken, einen Plätzchenteig an. Bis zu diesem Moment hatte sie gar nicht gewusst, wie wichtig es ihr gewesen war, dass Noel ihr Essen mochte. Vor allem mit der kaum erwähnenswerten Konkurrenz seiner Arbeitgeber daneben.
Wenige Minuten später taten sie nichts anderes, als wie so oft zusammen auf der Couch zu sitzen und gemeinsam Abendbrot zu essen und die Blicke, die sie dabei austauschten, versicherten beiden, dass das genau das war, was ihnen so gefehlt hatte. Nicht unbedingt das Essen oder das Sofa, sondern ihre vertraute kleine Welt.
Nachdem alles aufgegessen war, konnte Lea die Fragen aber nicht mehr zurückhalten und wollte alles über die Schmerzen wissen. Sie konnte immer noch nicht ganz glauben, dass er ihr sie wirklich derart vorenthalten hatte.
»Sie sind schon letzte Woche immer weiter aufgetreten, aber da war ich immer in der Bäckerei. Oder als ich das Date für dich vorbereiten wollte. Aber diese Woche hatte ich sie jeden Tag. Manchmal mehrmals.«
Lea hatte die Knie angezogen und eine solche Angst machte sich in ihr breit, dass sie nicht mal an ihren Haaren zupfte.
»Hast du mit deiner Chefin gesprochen?«
»Nein, ich glaube nicht, dass sie irgendwas weiß.«
»Warum hast du mir letzte Woche nichts davon erzählt?«
»Ich hab mich nicht getraut … Du hättest dir nur wieder Sorgen gemacht
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