Dezemberglut
heil gewesen war, waren die Tage lang und hell. Nun waren nur die Nächte lang, und die Zukunft schaute düster auf mich herab.
Tagsüber trieb es mich hinaus, aber ich wusste nicht, wohin. Ich kümmerte mich um Püppi und ging mit ihr spazieren. Oder ich setzte mich in die S-Bahn und fuhr nach Steglitz, ging durch die Schlossstraße, einer beliebten Einkaufsstr a ße mit vielen Einkaufszentren und Geschäften, wo ich ziellos Zeit verbrachte. Ich hatte kein Interesse an Kleidung oder Schuhen, wusste nicht, welche Lebensmittel ich kaufen sollte, weil es mir an Appetit fehlte, aber es beruhigte mich, unter Me n schen zu sein, auch wenn ich mit niemandem redete. Nichts hasste ich mehr, als in das leere Haus zurückzukehren.
In der Nacht lag ich wach. Ich fühlte mich müde und erschöpft, gleichzeitig überdreht und gefangen in einem Gedanken- und Gefühlskarussell, das mich nicht zur Ruhe kommen ließ. Plötzlich, in einem verwirrenden Moment, wusste ich nicht mehr, wo ich war. Da war das Zimmer in der Villa auf Schwanenwerder. Und das Zimmer in Köpenick, in dem ich so viele Tage und Nächte als Gefang e ne von Gregor verbracht hatte. Ich spürte, wie sich mein Körper verkrampfte und ich plötzlich genauso starr und unbeweglich lag, wie damals. Das Atmen fiel mir schwer, und ich wusste nicht, wie lange ich in diesem Zustand verharrte, bis es mir endlich gelang, mich daraus zu lösen. Ich tastete nach dem Lichtschalter.
Hier gab es keinen freundlichen Georg, zu dem ich gehen konnte, wenn ich nicht schlafen konnte. Also suchte ich mein Adressbuch und ging die Telefo n nummern durch , fand aber niemanden, den ich anrufen wollte. Nicht zum ersten Mal stellte ich fest, wie allein ich nun war.
Dann fiel mir Daniel ein. Daniel, der mich so oft abholte und wieder nach Ha u se brachte, hatte mir gesagt, dass ich ihn jederzeit anrufen k ö nne. Er hatte schöne braune Augen und ein sanftes Gesicht. Ich war sicher, er mochte mich. Er hatte mir erzählt, dass er ebenfalls von Gregor entführt worden war, vor fast dreißig Jahren. Er war Gregors Gefangener gewesen, bis es ihm gelang sich zur Gemei n schaft zu flüchten, wo er Aufnahme und Sicherheit gefunden hatte. Daniel hatte mir von seinen jahrelangen Angstzuständen erzählt, und dass es ihm nun endlich besser ging. Angstzustände. Ich hätte nie gedacht, dass Vampire unter Angstz u ständen leiden können. Aber ich wollte keinen Schutz bei einem Vampir suchen. Auch nicht, wenn er so nett war wie Daniel.
Ich stand auf und ging die Treppe hinunter. Streichelte Püppi, die mich erstaunt anblinzelte und müde schnaufte. Dann schaltete ich den Fernseher ein, klopfte auf den Platz neben mir, und Püppi sprang nach einigem Zögern zu mir aufs Sofa. Wir sahen zwei Folgen von Charmed im Nachtprogramm. Eigentlich gibt es keinen besseren Seelentröster als die Wiederholung einer Lieblingsserie, aber diesmal half sie nicht. Statt mich auf die Handlung zu konzentrieren, verbrachte ich die Zeit mit Grübeln.
An der Uni hatte ich mich für Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben. Was ich später beruflich machen wollte, wusste ich nicht. Auf jeden Fall würde ich viel Geld verdienen, eine Dachgeschosswohnung und einen Sportwagen besitzen . E inen tollen Freund hätte ich natürlich auch. So hatte ich mir mein künftiges L e ben vorgestellt.
Wie ich dorthin kommen sollte? Ich war mir immer sicher gewesen, dass es sich schon irgendwie ergeben würde. Schließlich sah ich weder wie eine Schrec k schraube aus , noch war ich auf den Kopf gefallen. Im Gegenteil, meine Noten waren so gut gewesen, dass mein Vater sehr enttäuscht war, als ich meinen Plan, Medizin zu studieren, aufgab. Diese jahrelange Paukerei hatte ich mir nicht antun wollen. Vor meiner Entführung hatte ich erst wenige Vorlesungen besucht, und bisher hatte ich das Studium noch nicht wieder aufgenommen. Ich konnte mich nicht dazu aufraffen. Wozu die Anstrengung? Es machte keinen Sinn. Nichts machte Sinn.
Am Morgen wachte ich mit einem steifen Nacken auf. Der Fernseher lief noch immer.
Die Zeit, die ich mit der Gemeinschaft verbrachte, wurde mir immer wichtiger. So wichtig, dass ich erschrak, als ich es mir eingestand. Beim Training hatte ich keine Zeit zum Grübeln. Ich strengte meinen Körper an. Verbrachte Zeit mit den Sie b zehn und mit anderen Vampiren, von denen einige gar nicht so übel waren. Lernte viel über eine Welt, die fremd und nicht nur gefährlich war. Eine Welt, in der es ebenfalls Werte
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