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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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und dessen Helfern handgreiflich in sein Reisegefährt gesetzt. Der Kutschkasten schwankte bei dem Handgemenge, und alle Aufmerksamkeit war auf die streitenden Männer gerichtet.
    Rasch hob Lore Nati hoch, schob sie unter das rote Ledertuch, das die Kofferablage verdeckte, und kroch selbst hinterher. Die Kette an ihrem Bein klirrte und knallte dann gegen das Holz. Lore blieb fast das Herz stehen. Doch niemand kam und sah nach.
    »Richtet Herrn Ruppert von Retzmann aus, die Angelegenheit sei noch nicht ausgestanden. Wenn mir seine Base Nathalia und ihreKinderfrau nicht unversehrt übergeben werden, sorge ich dafür, dass er sich in Deutschland nicht mehr sehen zu lassen braucht. Außerdem werde ich ihm auch hier in England erhebliche Schwierigkeiten bereiten! Ich verfüge über genug Beweise für seine verbrecherischen Umtriebe, bin aber bereit, sie ihm restlos auszuhändigen, wenn er mir die beiden Mädchen übergibt. Ich warte genau vierundzwanzig Stunden auf ihn, dann gehe ich zur Polizei. In der Zeit findet er mich im Hotel ›Fisherman’s Rest‹ am alten Hafen!«
    »In der alten Hütte? Na, dann fröhliches Wanzenjagen!«, spottete Edwin. In dem Moment fuhr die Kutsche mit einem scharfen Ruck an, als wären die Pferde froh, endlich aus der Nähe der Hunde zu kommen.

IX.
     
    Lore hatte große Mühe, sich und Nati auf der Kofferablage festzuhalten. Sie klammerte sich an einen der Lederriemen, die zum Befestigen des Gepäcks dienten, und stemmte die Füße gegen das Holz. Doch jeder Ruck schob sie ein Stückchen auf die hintere Kante zu. So atmete sie zunächst auf, als die Kutsche nach einigen Minuten Fahrt anhielt. Dann aber wurde sie steif vor Schreck. Hatten Rupperts Banditen ihre Flucht bemerkt und versperrten der Kutsche den Weg, um sie zurückzuholen? Aber sie vernahm keine lauten Stimmen und auch keine Hunde. Dafür stieg jemand aus der Kutsche und kam über den knirschenden Boden auf das Heck des Wagens zu. Das Leder wurde hochgehoben, und dann sah Lore in Thomas Simmerns lächelndes Gesicht.
    »Darf ich die Damen einladen, im Innern der Kutsche mitzureisen?Hier hinten ist es doch ein wenig unbequem, oder meint ihr nicht?«
    Er hob Lore heraus, als sei sie so leicht wie ein Federkissen, und drückte sie seinem Diener in die Arme. Dabei streifte sein Blick die Kette an ihrem Bein. »Ruppert wollte wohl auf Nummer sicher gehen! Von dem Ding kann ich dich aber erst befreien, wenn wir wieder im Hotel sind. Bei Gott, ich glaube, du wirst mir einiges zu erzählen haben, mein Fräulein!«
    Lore nickte verblüfft, doch er achtete nicht mehr auf sie, sondern zog Nati an sich, der es jetzt, da die Anspannung vorbei war, wieder schlechterging. Ihr Gesicht glühte förmlich, die Lippen waren aufgeplatzt, und die Augen glänzten im Fieber. »Mein Gott, Nathalia! Du wirst mir doch nicht sterben, Kätzchen? Ich fahre dich sofort zum nächsten Arzt!«
    »Sie hat gewiss großen Durst«, rief Lore aus der Kutsche und versuchte, sich aus den Decken und Pelzen zu befreien, in die der Diener sie gerade einpackte. »Wir haben seit gestern Mittag nur einen Becher schlechten Milchkaffee zu trinken bekommen. Bitte, Herr Simmern, haben Sie nicht etwas kalten Tee oder etwas Ähnliches bei sich? Ich flöße es Nati dann ganz vorsichtig ein! Auch muss sie dringend in ein warmes Bett, und ich glaube, wir sollten sie wieder in Birkenblätter packen! Mary Penn weiß Bescheid. Sie waren doch bei den Penns, nicht wahr? Ihre Brüder können uns welche besorgen.«
    Thomas Simmern schob sie mit der freien Hand zurück in das Wageninnere. »Bleib sitzen, Mädchen! Ich kümmere mich um unser kleines Kätzchen! Du siehst selbst so aus, als bräuchtest du dringend einen Arzt. Hier, trink einen Schluck von dem Ale. Es ist ein dünnes Bier, das meine Leute als Reiseproviant schätzen. Nati bekommt den Rest Wasser aus meiner Trinkflasche. Ich muss den Behälter nur einen Augenblick auf den Wärmeziegel legen, sonst schlägt das kalte Getränk unserer Kleinen auf die Lunge.«
    Während Thomas Simmern die Flasche herausholte und anwärmte, lächelte er Lore herzlich zu. »Ich bin froh, dass es dir gelungen ist, mit unserer Kleinen zusammen zu fliehen. Und zu deiner Frage: Ja, ich habe die Penns kennengelernt. Der Brief, den du von Mr. Smithson hast schreiben lassen, hat mich in London erreicht, und ich bin so schnell nach Harwich gekommen, wie es mir möglich war. Der Hafenmeister hat mich dann zu deinen Gastgebern geschickt. Aber leider kam ich

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