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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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eine Uniform zu tragen und überall den Ton anzugeben.«
    »Kluges Mädchen!«, lachte Onkel Thomas, schob Konrad zur Zimmertür hinaus und folgte dann selbst. »Komm, alte Teerjacke! Die Damen brauchen jetzt ihre Privatsphäre«, hörten sie ihn sagen, bevor die Tür sich hinter ihm schloss.
    Prudence schien nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben. »Oh, Laurie! Endlich bist du wieder du selbst. Ich danke dir dafür, dass du dich für mich eingesetzt hast. Das werde ich dir inmeinem ganzen Leben nicht vergessen! Das Hotel hier ist das schönste und gemütlichste in ganz Harwich, und Sir Thomas hat die größte Suite darin gemietet. So etwas Großartiges wie die Einrichtung hier drinnen habe ich noch nie gesehen. Ich glaube, die ist noch viel toller als bei Marys reichsten Kundinnen.«
    Mary, die gerade eine Naht mit dem Daumennagel glättete, musste lachen. »Nun übertreib mal nicht, Schwesterchen! Die
living rooms
und
boudoirs
meiner Kundinnen sind oft noch schöner eingerichtet. Du hast ja bisher nur immer den Lieferanteneingang und den Küchentrakt der großen Häuser kennengelernt.«
    »Komisch«, antwortete Lore nachdenklich, »ich erinnere mich noch daran, wie dieser Edwin, einer von Rupperts Handlangern, Onkel Thomas viel Glück beim Wanzenjagen gewünscht hat. Da habe ich mir vorgestellt, er hätte sich in einer scheußlichen Absteige einquartieren müssen. Apropos Edwin! Was ist mit Ruppert? Und was ist sonst noch alles passiert? Mein Kopf ist ganz wirr. Habt ihr oder hat Onkel Thomas noch etwas von dem Kerl gehört?«
    »Womit wir endgültig beim Thema wären«, spottete Mary. »Frage Nummer eins: Hier stand früher mal eine ziemlich verrufene, schmutzige Schenke mit einem Gästehaus, in dem fremde Matrosen in großen Schlafsälen billig übernachten konnten. Der Name ›Fisherman’s Rest‹ stammt noch aus jener Zeit. Damals ist viel geschmuggelt worden, und angeblich haben auch Piraten hier verkehrt. Jedenfalls ist die Bude vor einigen Jahren abgebrannt, und als es hieß, wir bekämen eine Dampferanlegestelle, hat ein reicher Pinkel dieses tolle Hotel hier errichtet. Dann ist der neue Hafen eine halbe Meile weit entfernt gebaut worden, und jetzt muss der Hotelbesitzer immer Vierspänner mit feinen Rössern zum neuen Hafen schicken, um Gäste zu sich zu lotsen. Uns hier im Viertel kommt das Hotel gerade recht, denn hier drinnen finden einige von uns Frauen und Mädchen Arbeit als Küchenhilfen oder Zimmermädchen.
    Frage Nummer zwei: Nein, wir haben nichts mehr von dem Scheusal Ruppert und seinen Leuten gehört. Mr. Simmern hat Scotland Yard informiert und Anzeige gegen die Kerle erstattet. Die Kriminalbeamten haben Ruppert im Verdacht, in London zwei Männer ermordet zu haben, und sie wollten den Schweinekerl verhaften. Aber als sie sein Landhaus umstellt hatten, war der Vogel ausgeflogen. Jetzt hängt sein Steckbrief in allen Bahnhöfen und bei jedem Schiffsmakler. Damit darf Ruppert sich hier in England nirgends mehr blicken lassen, sonst hat man ihn am Wickel. Aber ich denke, der Verbrecher ist längst über alle Berge!«
    Da Lore erlebt hatte, wie kaltblütig Ruppert von Retzmann war, teilte sie Marys Einschätzung nicht. Ein Mann, der vor aller Augen einen Mord begehen und ihn als Unfall darstellen konnte, lief nicht vor der Obrigkeit davon, sondern versteckte sich wie eine Schlange im Gras, um sofort wieder zuzubeißen, wenn er eine Chance sah. Sie erinnerte sich nur zu gut an seine Drohungen, Nati und Onkel Thomas in London umbringen zu lassen. Wenn er die Gelegenheit dazu bekam, würde er dies auch tun. Ohne eine offizielle Anklage oder Zeugen für seine Verbrechen konnte er danach seelenruhig nach Deutschland zurückkehren und das Vermögen der Retzmanns kassieren. Onkel Thomas sah das sicher genauso, denn sonst hätte er nicht die verkleideten Polizisten eingestellt.
    Mary bemerkte Lores Geistesabwesenheit und hielt sie für Erschöpfung. Daher schickte sie Prudence und die empört widersprechende Nathalia hinaus, drehte die Petroleumlampe auf dem Tisch kleiner und rückte sie hinter einen kleinen Schirm, so dass das Licht nur noch auf ihre Handarbeit fiel. »Schlafe noch ein wenig, bis die Suppe kommt! Das, was du in den letzten vier Wochen mitgemacht hast, reicht für ein ganzes Leben voller Alpträume und Nervenkrisen.«
    Lore reckte und streckte sich und schüttelte dann entschlossenden Kopf. »Nein, darüber muss ich hinwegkommen! Ich bin keine vornehme Dame, die sich Nervenkrisen

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