Dezembersturm
Penn nach London. Diese Reise sollte für sie eines der schönsten Erlebnisse ihres Aufenthalts werden, denn sie saßen alle zusammen in der großen Kutsche, die mit Wärmeziegelnund Pelzdecken in verschwenderischer Fülle ausgestattet war. Das Gepäck wurde von Weates, dem englischen Lakaien, mit der Eisenbahn zu dem Londoner Hotel gebracht. Onkel Thomas aber wollte, dass seine Gäste die Stadt von ihrer besten Seite kennenlernten.
Da Weihnachten vor der Tür stand, war London wunderschön geschmückt und hell erleuchtet. So etwas hatten weder Lore noch Mary oder Prudence jemals gesehen, und sie genossen die Pracht mit leuchtenden Augen. Nati aber meinte altklug, die Helligkeit käme von den vielen Gaslaternen, die die verschwenderischen Londoner sogar am Tag brennen ließen.
Onkel Thomas schmunzelte, und Konrad tippte dem vorwitzigen Mädchen auf die Nase. »Das hat ihr Großvater ihr beigebracht«, erklärte der Diener. »Der alte Herr war großzügig, aber er hasste Verschwendung. Sein ältester Sohn hat das Geld mit vollen Händen ausgegeben und starb infolge einer völlig unsinnigen Wette. Zuvor hatte er eine geschiedene Frau geheiratet, die angeblich ein Kind von ihm erwartete. Abgesehen davon, dass diese Braut sich bereits einen Adelstitel erheiratet hatte, war sie alles andere als eine wirkliche Dame. Außerdem hat sie sich als eine geldgierige Harpyie erwiesen, die auf den Namen Retzmann einen Haufen Schulden gemacht hatte. Der alte Herr hat ihre Schulden bezahlt – und dem Ganzen dann mit Hilfe des Gerichts einen Riegel vorgeschoben. Das Weibsstück und ihr Sohn Ruppert durften ihm fortan nicht mehr unter die Augen kommen. Die Frau hat sich daran gehalten, denn sie fand bald einen dritten Ehemann, den sie ausnehmen konnte. Dem Vernehmen nach soll sie schließlich verrückt geworden und in einem privaten Sanatorium gestorben sein, in das sie von der Familie ihres dritten Ehemannes gesteckt worden war, nachdem dieser sich wegen ihrer Skandale erschossen hatte. Ruppert aber ist ein Stachel im Fleisch der gräflichen Familie geblieben. Er …«
»Danke, das reicht!«, unterbrach Mary Konrad ärgerlich. »Jetzt hast du uns mit diesem Namen die ganze schöne Weihnachtsstimmung verdorben! Schau dir doch Laurie an. Sie bricht gleich wieder in Tränen aus!«
Konrad grinste verlegen und entschuldigte sich linkisch. Inzwischen hatte Nati etwas von dem schmutzigen Schnee zusammengescharrt, der außen auf dem Kutschenschlag hing, und warf ihn dem Diener ins Gesicht. »Wenn du noch einmal meine Lore ärgerst, Konrad, dann kündige ich dir die Freundschaft!«
Während Konrad wie erstarrt dasaß, nahm Lore ein Taschentuch und wischte ihm das Gesicht ab, über das die braune Schneebrühe lief. Dabei hielt sie Nati einen kurzen, aber eindringlichen Vortrag über anständiges Verhalten.
»Entschuldige dich bei Konrad!«, verlangte sie schließlich von Nati. »Er ist ein rechtschaffener Mensch und ein treuer Diener. Diese Behandlung hat er nicht verdient. Wir denken doch alle immer wieder an das Scheu… diesen Herrn. Konrad wollte mich nicht kränken.«
»Wollte er doch …«, murrte Nati leise. Laut aber sagte sie: »Entschuldige, Konrad! Ich will so etwas nicht wieder tun. Ich weiß, du bist eifersüchtig auf Lore, aber ich habe dich immer noch genauso gerne wie früher. Denk daran, ohne Lore hättest du mich nicht wiedergesehen!«
Konrad schluckte und sah Lore verlegen an. »Unser Komtesschen hat recht, Fräulein Lore. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich dachte, unsere Kleine wolle nichts mehr von mir wissen, weil sie jetzt so an Ihnen hängt. Aber nun hat sie mir handgreiflich gezeigt, dass ich ihr noch etwas bedeute!«
Unter Gelächter bog die Kutsche in den mit Gaslaternen beleuchteten Hof eines großen Hotels ein. Als sie, immer noch lachend, ausstiegen, hörte Lore einen der Pagen zu einem anderen sagen: »So heiter und sorglos wie die möchte ich auch einmal sein.«
VI.
Die Worte des Pagen beschäftigen Lore noch lange. Heiter waren sie vielleicht gewesen, aber sorglos gewiss nicht, dachte sie, während sie sich immer wieder nach allen Seiten umsah. Hier in London würde es schwieriger sein, herauszufinden, ob Ruppert Spitzel hinter ihnen herschickte, denn trotz der Kälte waren viel mehr Menschen unterwegs als in Harwich. Dazu gab es zahllose Eckensteher und Bettler, die ihre Dienste anboten oder die Vorübergehenden aufdringlich anschnorrten. Jeder von ihnen konnte in Rupperts Diensten
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