Dezembersturm
erlauben kann, sondern muss ebenso wie du von meiner Hände Arbeit leben – oder mir einen vermögenden Mann suchen. Aber als Waise ohne angesehene Verwandte habe ich kaum Chancen, einen Ehemann zu finden, der nicht an meinem bisschen Geld interessiert, sondern willens und in der Lage ist, mich und die gemeinsamen Kinder zu ernähren. Ach, Mary … Ich wünschte, Nati wäre schon wieder zurück in Bremerhaven und ich auch. Mir graut davor, noch einmal ein Schiff zu betreten.«
Bei diesem abrupten Themenwechsel leuchteten Marys Augen auf. »Dann musst du in England bleiben, Laurie. Ich hätte nichts dagegen, im Gegenteil! Wenn du bei uns bleibst, kannst du bei mir in meiner Dachstube wohnen und mir helfen, meinen Kundenkreis zu vergrößern. In ein paar Jahren gehen wir beide dann nach London und machen mit deinem Geld und unseren Ersparnissen ein Modegeschäft auf. Nun? Hast du Lust dazu?«
Lore seufzte tief. »Lust schon, aber ich habe dem Grafen Retzmann vor seinem Tod versprochen, mich um Nati zu kümmern und sie zu beschützen, solange es nötig ist. Ihr bösartiger Vetter könnte ja ihre Gouvernanten bestechen oder ihr sonst etwas antun. Wenn ich mein Wort halten will, muss ich nach Deutschland zurückkehren, um Nati zu hüten, bis sie alt genug ist, auf sich selbst aufzupassen.«
Mary starrte Lore ungläubig an und tippte sich dann an die Stirn. »Du kennst Lady Püppchen doch erst seit zwei Wochen, und dein Versprechen galt doch eigentlich für die Zeit bis zur Rettung von dem untergegangenen Schiff. Nein, Laurie-Darling, ich glaube, du willst einfach nur nach Deutschland zurück. Du wolltest nie auswandern, stimmt’s? Du bist auf diese Reise gegangen, weil dein Großvater es dir befohlen hat. Meinetwegen auch aus Angst vor diesen bösen Verwandten, von denen du mir erzählt hast. Duweißt genauso gut wie ich, dass Sir Thomas die kleine Lady am besten beschützen kann. Wenn er nicht mit diesem Halunken fertig wird, wirst du es erst recht nicht! Wenn du Pech hast, bist du es, die umgebracht wird, während Mr. Simmern und die kleine Lady heil nach Deutschland kommen. Sie werden ein paar Jahre lang an deinem Todestag beten und Blumen für dein Grab stiften – wenn es überhaupt ein Grab gibt. Überleg dir, ob du dein Leben wirklich für ein noch nicht einmal entfernt mit dir verwandtes Kind opfern willst!« Mary kniff die Lippen zusammen und beugte sich wieder über ihre Arbeit, um ihren Unwillen zu zeigen.
Lore verstand sie, und es tat ihr auch leid, dass sie ihr Angebot zurückweisen musste. Mary erhielt für ihre Näharbeiten wesentlich weniger, als sie selbst in Heiligenbeil hätte verdienen können, wenn Malwine nicht dazwischengetreten wäre. Mit ihrer Arbeit würde sich Mary niemals so viel zusammensparen können, um ein Geschäft in einer Gegend mit gutzahlender, bürgerlicher Kundschaft eröffnen zu können, zumal es unsicher war, ob die Damen bei einer Schneiderin arbeiten lassen würden, die auf Krücken ging. Zudem war London Marys Berichten nach noch teurer als Berlin, doch dort konnte man gewiss auch mehr verdienen. Aber England war nicht Amerika, das Auswanderer mit offenen Armen empfing, und es war nicht Deutschland, wo Lore sich heimisch fühlte, sondern ein Land voller seltsamer Sitten und noch seltsamerer Vorurteile, und zudem ein Ort, in dem Ruppert, ihr Feind, viele willige Helfershelfer besaß.
Mary hatte Ruppert einen Verrückten genannt. Diesen Eindruck hatte sie ebenfalls gewonnen. So, wie dieser Mann sich benahm, konnte er nicht klar im Kopf sein. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte auch Natis Großvater so etwas angedeutet. Damals hatte sie es nicht begriffen, doch jetzt machte es ihr doppelt Angst. Wahnsinnige Menschen, denen man ihr Anderssein nicht ansah, galten als besonders rachsüchtig und gefährlich.
Lore wollte nicht in einem Land bleiben, in dem ein wahnsinniger Mörder sich bewegte wie ein Fisch im Wasser, selbst wenn sie dafür noch ein allerletztes Mal ein Schiff betreten musste. Es gab ja nicht immer Winterstürme, und nicht jeder Dampfer ging unter.
Gäbe es Ruppert und vor allem auch Nati nicht, hätte Marys Vorschlag sie reizen können. Aber sie hatte sich entschieden, zusammen mit Nati unter dem Schutz von Onkel Thomas zu bleiben, bis sie selbst alt genug war, um sich irgendwo in Deutschland selbständig zu machen. Einen Augenblick lang dachte sie daran, dass sie sich während der nächsten fünf Jahre vor Ottokar von Trettin würde verstecken müssen,
Weitere Kostenlose Bücher