Dezembersturm
doch Bremen schien ihr weit genug von ihrem Heimatort entfernt zu sein, um dort ungefährdet leben zu können.
Außerdem konnte sie in Bremen Onkel Thomas’ Verbindungen nutzen, um später ein größeres Atelier einzurichten. Mit dieser angenehmen Vorstellung schlummerte sie ein, bis ein Hotelpage das Mittagessen brachte. Der Rest des Tages verging mit Rätseln, Brett- und Fadenspielen, die Nati und Prudence vorschlugen und an denen Lore mit großem Eifer teilnahm.
V.
Die Nacht verlief ohne Störungen, und am nächsten Tag brachte Onkel Thomas Lore die Zeitungsausschnitte, die sich mit dem Untergang der
Deutschland
beschäftigten. Zu ihrer Verwunderung waren auch schon Ausschnitte deutscher Zeitungen dabei. Die ersten Artikel gaben nur kurz die Meldungen wieder, die per Unterseekabel in alle Welt gegangen waren. Die meisten davon erwähnten die fünf ertrunkenen Nonnen, und je nach Ausrichtungder deutschen Zeitungen gab es parallel dazu einen Kommentar, der sich entweder kritisch mit den Kulturkampfgesetzen oder mit der katholischen Kirche und ihrer Macht in Deutschland auseinandersetzte.
Die englischen Zeitungen schilderten ausführlich den dreißigstündigen Kampf der Menschen an Bord des Wracks gegen das Wasser und den Schneesturm und stellten die Frage, warum nicht schneller Hilfe zur Stelle gewesen war. Die
Times
hielt das für einen Skandal ersten Ranges und wetterte über die Seeleute von Harwich, die sich wegen des Unwetters nicht auf See getraut hätten. In einer der nächsten Ausgaben schimpfte der Bürgermeister von Harwich in einem langen Leserbrief über die ignoranten Londoner Zeitungsschreiber. Die Sandbank bei Kentish Knock, so erklärte er, auf die die
Deutschland
aufgelaufen sei, liege vierundzwanzig Seemeilen von Harwich entfernt, und das sechs Meilen von der Untergangsstelle entfernt ankernde Feuerschiff habe das Festland erst bei Nacht mit Signalraketen auf den Havaristen aufmerksam machen können.
Der Kapitän der
Liverpool
, John Carrington, ein Mann von über sechzig Jahren, wurde im ganzen Land als Held gefeiert. Doch er war nicht der Einzige, der trotz des Sturms nach dem Wrack gesucht hatte. Durch die Raketen des Feuerschiffs aufmerksam geworden, waren mehrere kleinere Schiffe ausgelaufen, darunter auch einige Fischkutter, die nur Segel besaßen, deren Besitzer das Gebiet der Sandbänke jedoch wie ihre Westentasche kannten. Diese waren selbst mit Mastbrüchen und zerfetzter Takelage gestrandet oder hoffnungslos abgetrieben worden. Einer der fünf Matrosen, die mit dem ersten Boot weggerissen worden waren, hatte überlebt und die Küstenwache bei Sheerness alarmieren können. Diese hatte ebenfalls Schiffe zur Rettung ausgesandt, doch deren Hilfe wäre zu spät gekommen.
Die meisten Artikel ließen kein gutes Haar an Kapitän Brickenstein,der doch recht weit von der Fahrrinne in der trompetenförmigen Mündung der Themse abgekommen war und sein Schiff mitten in ein Gebiet besonders dichter und gefährlicher Sandbänke gesteuert hatte. Viele aber waren des Lobes voll über die Umsicht, mit der die deutsche Schiffsbesatzung trotz der schwierigen Situation die meisten Passagiere lebend durch die Sturmnacht gebracht hatte.
Lore konnte den Berichten entnehmen, dass sich der Kapitän und die Offiziere der
Deutschland
vor einem Gericht der englischen Handelsmarine verantworten mussten, vor dem auch ein Vertreter der deutschen Reederei Rede und Antwort stehen sollte. Dieser Vertreter war Thomas Simmern. Allerdings bedeutete dies, dass Onkel Thomas sich noch eine Weile in London aufhalten musste, einem Ort, in dem Rupperts Handlanger nur darauf warteten, ihn und seine Schützlinge zu ermorden.
So schenkte Lore den ausführlichen Artikeln über die Beerdigung der vier geborgenen Nonnen, den Schilderungen über deren prunk volle Aufbahrung und die vielen Besucher der Totenfeier nur halbherziges Interesse. Dafür ärgerte sie sich über die dummen Bemerkungen über die Politik Bismarcks und des deutschen Kaisers Wilhelm, die den Berichten zufolge regelrechte Kreuzzüge gegen die katholische Kirche in Deutschland veranstalteten und denen die Schuld am Tod der Klosterschwestern zugeschrieben wurde.
Dabei war das ausgemachter Unsinn. Lore wollte trotz ihres katholischen Glaubens wieder nach Hause zurückkehren, auch wenn dieses Zuhause nicht mehr Ostpreußen sein würde, sondern die Freie Hansestadt Bremen.
Drei Tage später fuhr Lore mit Onkel Thomas, Nati, Konrad und den beiden Schwestern
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