Dezembersturm
werden. Siestammelte »Danke« und umarmte die Kleine, musste dabei aber mit den Tränen kämpfen, die in ihr aufsteigen wollten. Zwar hatte ihr Großvater sie früher, als er noch auf dem Gut gelebt hatte, auch ausgiebig beschenkt, aber der Mantel und die Goldkette übertrafen alles bisher Dagewesene. Daher war sie froh um die schönen Servietten, die Mary für sie bestickt hatte, denn sie gaben ihr das Gefühl von Normalität zurück, erinnerten sie sie doch an die Weihnachtsfeste zu Hause, bei denen sie sich über ähnliche Gaben riesig gefreut hatte. Doch schon beim nächsten Geschenk kehrte ihre Befangenheit zurück. Es handelte sich um modische Knöpfstiefel, um die sie jede der besseren Damen im Landkreis Heiligenbeil glühend beneidet hätte.
Jetzt öffneten auch die anderen ihre Geschenkpakete. Während Konrad zufrieden auf die festen Handschuhe und die Schachtel mit guten Zigarren schaute, wussten die Penn-Schwestern kaum mehr, wie sie ihrer Begeisterung Ausdruck verleihen sollten. Thomas Simmern hatte beide reichlich bedacht. Auch Lore hatte ihnen je eine hübsche Kleinigkeit gekauft. Mary bekam von Konrad zusätzlich noch ein kleines Päckchen gereicht. Da er wusste, dass sie katholisch war, hatte er ihr einen deutschen Katechismus besorgt.
Mary sah etwas erstaunt auf die ihr unbekannte Sprache und zupfte dann Lore am Ärmel. »Du wirst mir beibringen müssen, das zu lesen«, flüsterte sie und bedachte dann Konrad mit einem dankbaren Blick.
»Wenn ihr alles ausgepackt und angesehen habt, können wir zur Christmette fahren!« Onkel Thomas drängte ein wenig zur Eile. Um Lores willen hatte er sich für die neue deutsche Kirche in Whitechapel entschieden, die im selbstbewusst monumentalen Stil der neuen Zeit errichtet und erst vor wenigen Tagen rechtzeitig zum Weihnachtsfest geweiht worden war. Lore und die anderen, die ihn begleiteten, freuten sich sehr über diese Wahl.
IX.
Der nächste Morgen begann mit einem anglikanischen Gottesdienst in der berühmten Saint Paul’s Cathedral, die, wie Onkel Thomas erklärte, nach dem Vorbild von Sankt Peter in Rom erbaut worden war, innen aber im Gegensatz zu jener im üppigen Barock ausgestattet war. Auch der Gottesdienst war ganz anders, als Lore es aus ihrer Heimat kannte. Es war alles so feierlich und pompös, dass sie kaum zu atmen wagte, und daher war sie froh, als die einschüchternde Feier hinter ihnen lag und sie das Gotteshaus wieder verlassen konnten.
Danach gab es im Hotel noch einmal eine etwas bescheidenere Bescherung auf englische Art, mit Socken am Kamin, die am Abend zuvor dort aufgehängt worden waren. Nach einem ausgedehnten Spaziergang beschloss Onkel Thomas, der seit der Rückkehr von dem englischen Gottesdienst ungewöhnlich bedrückt wirkte, das Dinner zusammen mit seinen »Damen« im prachtvoll eingerichteten und weihnachtlich geschmückten Speisesaal des Hotels einzunehmen. Der große Raum war erst kürzlich im sogenannten Dampferstil renoviert worden, der Lore fatal an den oberen Salon erster Kajüte auf der
Deutschland
erinnerte.
Neben den Hotelgästen und deren Geschäftsfreunden waren viele englische Familien der bürgerlichen Oberschicht anwesend, um sich das neue Ambiente anzusehen und die für ein englisches Hotel ungewöhnliche Speisefolge zu genießen, die ebenfalls den Sitten auf den großen Ozeandampfern nachempfunden war. Eine etwas steife Kapelle trug in gebührenden Abständen englische Weihnachtslieder vor.
Der feierlichen Stimmung, die hier herrschte, konnte sich auch die Gruppe um Onkel Thomas nicht entziehen, und zum ersten Mal spürte Lore, wie die Trauer um ihren Großvater und den Verlustder Heimat neuen Gefühlen wichen, in denen Thomas Simmern einen bedeutenden Platz einnahm.
Als die Kapelle wieder eine Pause einlegte, hob Nati den Kopf. »Onkel Thomas, sag mal, was ist eine russische Hure?«
Sie stellte die Frage in dem etwas seltsamen, aber gutverständlichen Englisch, das sie sich im Umgang mit den verschiedenen örtlichen Dialekten angewöhnt hatte.
»Was? Wie bitte?« Thomas Simmern, der geistesabwesend dagesessen hatte, starrte sie an und wusste im ersten Moment nicht zu antworten.
»Nathalia! Schäm dich!«, rief Lore entsetzt. »So etwas fragt ein wohlerzogenes Mädchen nicht! Schau, die Herrschaften um uns herum sind ganz fassungslos. Sie müssen von uns denken, wir kämen geradewegs aus der Gosse.«
Nati sah sich um und streckte zwei Matronen, die sie eulenhaft durch vergoldete Lorgnons
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