Dezembersturm
musterten, kurzerhand die Zunge heraus. »Unser Kutscher hat mit Weates Karten gespielt und dabei das Wort benutzt!«, antwortete sie maulend und noch immer mit beträchtlicher Lautstärke. »Ruppert, der Teufel, hat laut herausgeschrien, meine Mama sei eine russische Hure gewesen. Das ist bestimmt nicht wahr! Aber ich will wissen, was das ist. Ich habe ein Recht darauf! Wenn es etwas Schlechtes ist, dann trete ich meinen bösen Vetter ganz kräftig vor das Schienbein!«
Obwohl Thomas Simmern im privaten Kreis offen und gelöst sein konnte, hielt er in Gesellschaft sehr viel auf gute Umgangsformen. Außerdem hasste er es wie die meisten Männer seiner Gesellschaftsschicht, im Mittelpunkt skandalöser Aufmerksamkeit zu stehen. Er bedachte Nati mit einem drohenden Blick, legte das Besteck nieder, wischte sich den Mund ab und erklärte die Tafel für aufgehoben.
»Nathalia! Ich schäme mich für dich! Solange du dich nicht benehmen kannst, wie es einer Komtess Retzmann ansteht, wirst dunicht mehr in großer Gesellschaft speisen und auch an keiner öff entlichen Veranstaltung teilnehmen! Das heißt, kein Theater mehr, kein Vergnügungspark, kein Zoobesuch und kein Einkaufsbummel! Das gilt auch für Lore und deinen restlichen Hofstaat, der es versäumt hat, dich anständig zu erziehen. Abgesehen davon hatte ich euch allen verboten, den Namen deines Vetters am heiligen Fest in den Mund zu nehmen. Wer nicht hören will, muss fühlen. Meine Damen, ab heute habt ihr Stubenarrest, bis ihr diesem ungezogenen Mädchen Manieren beigebracht habt!«
Im ersten Augenblick war Lore über seine harsche Art erschrocken, doch sie begriff rasch, dass nicht allein der Ärger über Natis Bemerkung ihn zu dieser drakonischen Strafe veranlasst hatte. Da musste mehr dahinterstecken, und das hatte gewiss mit Ruppert zu tun.
Nati aber zog ein langes Gesicht, und Prudence starrte ebenfalls missmutig drein. Für das Mädchen aus der Hafenstraße war der Aufenthalt in London ein grandioses Erlebnis gewesen, das jetzt ein abruptes Ende zu finden schien. Mary runzelte nur kurz die Stirn und zwinkerte dann Lore erleichtert zu. Für sie waren die Ausflüge in Schnee und Matsch trotz des Rollstuhls und Konrads tatkräftiger Hilfe immer mit Schmerzen in den Beinen verbunden. Daher machte ihr die Wendung der Dinge weniger aus.
X.
Das Einzige, das Lore Onkel Thomas wirklich übelnahm, war die Tatsache, dass er sie nicht ins Vertrauen zog. In der Beziehung war er auch nicht anders als andere Männer. Aber um wenigstens etwas von dem zu erfahren, was in der Welt vorging, und vielleicht auch hinter die Ursache seines Stimmungsumschwungs zu kommen,bot sie ihm ihre Hilfe bei der Bewältigung seiner umfangreichen Korrespondenz an. Entgegen ihren Befürchtungen akzeptierte er ihr Angebot dankbar. Für drei, vier Stunden am Tag war sie von nun an damit beschäftigt, Briefe aus gekritzelten Notizen in Schönschrift zu übertragen, die empfangene Korrespondenz abzuheften sowie die vielen Zeitungsausschnitte, die sich immer noch mit dem Untergang der
Deutschland
und auch anderen Schiffsunglücken beschäftigten, in Alben zu kleben und mit den von ihm vorgegebenen Texten zu versehen.
Nun erst begriff sie, welchen Wirbel die Strandung des deutschen Dampfers bei Kentish Knock und die dreißig Stunden bis zur Rettung sowohl in England wie auch in ihrem Vaterland ausgelöst hatten. Viele Zeitungen und etliche Monatsjournale beschäftigten sich mit dem Schiffbruch und seinen Folgen, die in Deutschland sogar den Reichstag heftig debattieren ließen. Man plante, strengere Gesetze zu schaffen, um die Sicherheit der Schiffe und der Schifffahrtswege zu erhöhen, und man diskutierte auch über die Gründung einer Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Das junge Deutsche Reich schien durch den Untergang eines Schiffes, das seinen Namen trug, besonders betroffen zu sein, denn der Kaiser setzte sich persönlich für Verbesserungen ein.
Lores Gedanken beschäftigten sich intensiv mit dem Gelesenen, bis ihr beim Aufräumen in Onkel Thomas’ improvisiertem Büro ein Brief voller wilder Drohungen in die Hände fiel, dem allerdings die Unterschrift fehlte. Dennoch war sie sicher, dass Ruppert der Absender war, und er war einer Notiz Thomas Simmerns zufolge am fünfundzwanzigsten Dezember im Hotel eingetroffen.
Hatte sie vorher schon geahnt, warum Onkel Thomas Nati und ihren »Hofstaat« für den lächerlichen, kleinen Zwischenfall so hart bestraft hatte, so verstand
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