Dezembersturm
geschehen, und das weiß er«, antwortete Onkel Thomas im Brustton der Überzeugung. »Ihm bleibt nichts anderes übrig, als in einem fernen Teil dieser Welt sein Unheil zu treiben.«
»Aber ist das den Menschen gegenüber zu verantworten, die dort seine Opfer werden? Und was ist, wenn er weiterhin Waffen schmuggelt? Sind wir dann nicht am Tod all jener schuld, diedadurch umkommen?« Lore schüttelte es bei dem Gedanken, und auch die anderen wurden für einen Augenblick still.
Dann klang Thomas Simmerns Stimme deutlich, aber auch ein wenig beschämt an Lores Ohr. »Leider hast du recht. Ich muss sagen, mir wäre es auch lieber, die Polizei würde ihn fangen und einsperren. Wir können uns nur damit trösten, dass er einer von vielen Waffenschmugglern ist und gewiss keiner der größten. Würde er die Waffen nicht liefern, täten es andere.«
Es war eine lahme Ausrede, und Lore begriff das sofort. Auch Thomas Simmern schien seine Worte so zu empfinden, denn er wirkte plötzlich müde und abgespannt. Er tat Lore leid, und sie überlegte, was sie tun konnte, um ihm zu helfen und ihn ein wenig aufzumuntern. Es musste schwer für ihn sein, so viel Verantwortung zu tragen. Die sanftmütige Art, mit der er Nati, aber auch Mary, Prudence und sie behandelte, erinnerte sie an ihren Vater, den besten Menschen, den sie je gekannt hatte. Bei dem Gedanken traten ihr die Tränen in die Augen. Gleichzeitig aber freute sie sich, in Thomas Simmern eine verwandte Seele gefunden zu haben.
Sie lächelte ihm zu und ergriff seine Hand. »Lieber Onkel Thomas, wir sollten uns von Ruppert nicht die Vorfreude auf das Weihnachtsfest verderben lassen. Gewiss wird die hiesige Polizei ihn bald fangen oder wenigstens aus England verscheuchen!«
Thomas Simmern nickte und erwiderte ihr Lächeln. »Mein Fräulein, wie so oft hast du auch diesmal recht!«
VIII.
Da Weihnachten unmittelbar vor der Tür stand und jeder noch Vorbereitungen für das Fest zu treffen hatte, trat der Vorfall schließlich in den Hintergrund und wurde nicht mehr erwähnt. Nur Lore dachte gelegentlich an die unangenehme Begegnung und versuchte sich verzweifelt zu erinnern, über welche Pläne Ruppert mit Edwin gesprochen hatte. Doch sosehr sie sich auch abmühte, es fiel ihr nicht ein.
Den Heiligen Abend feierten sie zuerst auf deutsche Art unter einem großen, mit Glaskugeln und Kerzen geschmückten Weihnachtsbaum, den Konrad und der Kutscher im Wohnzimmer der Hotelsuite aufgestellt und den Lore, Mary und Prudence mit großem Vergnügen geschmückt hatten.
Der Gabentisch quoll über. Jeder fand sich bedacht, sogar das Zimmermädchen und die beiden Hotelpagen, die ihnen zur Verfügung standen. Die Hotelleitung hatte ihnen ein älteres Hammerklavier ins Zimmer gestellt, dem Onkel Thomas nicht nur »Stille Nacht, heilige Nacht« entlockte, sondern auch die anderen Weihnachtslieder, die gerade in Deutschland populär waren, darunter das erst kürzlich entstandene Lied »Kommet, ihr Hirten«.
Nati hatte zuerst mit glockenreiner Stimme mitgesungen, starrte aber schließlich nur noch die Geschenkekartons an und schlich schließlich auf Zehenspitzen hin. Plötzlich mischte sich das Geräusch zerreißenden Geschenkpapiers unter die Stimmen der Sänger und brachte Lore dazu, sich umzudrehen.
»Aber Nati, du musst doch warten, bis wir fertig sind«, schalt sie. Thomas Simmern hob begütigend die Hand. »Lass sie, Lore! Es ist mir lieber, Nati zeigt Freude am Leben, als dass sie sich wegen ihres Großvaters die Augen ausweint.«
»Sie trauert sehr um Graf Retzmann und weint oft, wenn sie sich unbeobachtet fühlt«, sagte Lore, die glaubte, ihren Schützling verteidigen zu müssen.
»Das weiß ich doch. Umso wichtiger sind für sie Stunden der Freude. Also, Fräulein, was hat dir das Christkind gebracht?« Der letzte Satz galt Nati, die stolz eine Porzellanpuppe mit echtem Haar auspackte, die fast so groß war wie sie selbst. Sie sah die Puppe mit leuchtenden Augen an und gab ihr dann einen Kuss.
»Die gefällt mir. Die mag ich wirklich sehr gerne.«
»Noch lieber als Lore? Der hast du nämlich keinen Kuss gegeben«, fragte Konrad augenzwinkernd.
Sofort eilte Nati zu Lore und schlang die Arme um sie. »Dich mag ich am allerliebsten!« Dann küsste sie sie, kehrte aber wieder zu ihrer Puppe zurück.
»Du hast noch andere Geschenke erhalten«, mahnte Onkel Thomas sie.
Nati nickte eifrig und machte sich daran, die weiteren Pakete zu ö?nen. Dabei achtete sie jedoch nicht
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