Dezembersturm
gekauft hatte, und trat ans Fenster. Tief unten breitete sich ein parkähnlicher, noch winterlich kahler Garten aus, der wegen der geplanten und dann geplatzten Feier von Gaslaternen erhellt wurde. Von der Dienerschaft hatte niemand daran gedacht, die Flammen abzudrehen. Lore spürte, dass es nicht einfach sein würde, dieses Haus zu leiten, und sie fühlte sich für diese Aufgabe noch zu jung. Dennoch würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als Thomas Simmerns Wunsch zu erfüllen. Ermingarde Klampt war nicht die Frau, der sie ein Kind wie Nathalia anvertrauen würde. Aber wenn sie hierblieb, würde sie genau das sein, was sie nach dem Willen ihres Großvaters niemals hätte werden sollen, nämlich eine bezahlte Dienstbotin.
Natürlich bestand ein großer Unterschied darin, ob sie als arme Verwandte galt, die um Gottes Lohn schuften und sich dazu noch anhören musste, dass sie dankbar sein müsse, weil man ihr ein anständiges Zuhause gegeben habe, oder als hochbezahlte Gesellschafterin und Erzieherin einer reichen Erbin. Aber in Amerika wäre sie … ja, was wäre sie dort gewesen?
Nach allem, was sie auf dieser aufregenden und gefahrvollen Reise gehört und gesehen hatte, versuchte sie sich vorzustellen, wie ihr Leben nach der Ankunft in den Staaten verlaufen wäre, wenn derSchiffbruch sie nicht aus der von ihrem Großvater vorgezeichneten Bahn geworfen hätte. Zuerst einmal wäre sie ganz allein dagestanden, ohne Freunde und ohne Erfahrung mit fremden Städten und Ländern. Zwar hätten die Nonnen sie bei sich aufgenommen und sich um sie gekümmert. Aber dann wäre sie wirklich eine Dienstbotin geworden, die im Namen Gottes ihre Arbeit tun musste – und das auch nur um Gottes Lohn. Ob sie dort, in diesem fremden Land und nach Jahren eines eingeschränkten Lebens unter frommen Frauen wirklich den Mut und die Kraft gefunden hätte, sich auf eigene Füße zu stellen, bezweifelte sie. Hier aber hatte sie Freunde gefunden, und an diesem Ort wurde sie gebraucht. Sie würde sich durchbeißen und Nati – ihr neues Schwesterchen – beschützen, ganz gleich, wie schwer es ihr auch fallen mochte.
»Ich habe mich entschieden«, sagte sie etwas zu laut. »Ich bleibe!«
»Lore?«, fragte Nati schlaftrunken. Instinktiv spürte sie die Zweifel, die an Lore nagten. Sie sprang aus dem Bett, lief zu ihr und umarmte sie. »Hast du etwa Angst vor Tante Ermingarde? Das musst du nicht. Ich bin ja da und beschütze dich vor ihr!«
VIII.
In den nächsten Tagen sah es jedoch nicht so aus, als müsse Nati Lore beschützen. Ermingarde Klampt behandelte Lore freundlich, geradezu zuckersüß, und stimmte ihr in allem zu, was Natis Wohl betraf. Nati selbst wurde von ihr abwechselnd als »unser liebes Kind« und »unser Augapfel« bezeichnet und musste sich mindestens fünf Mal am Tag von Tante Ermingarde und deren Tochter herzen und küssen lassen. Selbst als die Kleine einmal kurz LoresAufsicht entschlüpfte und die Gelegenheit nutzte, einen noch nicht ausgenommenen Hering in Armgards Bett zu plazieren, tat diese den Streich nach einem scharfen Blick ihrer Mutter als lustigen Scherz ab.
Doch gerade diese Nachsicht erregte Natis Misstrauen. Das Mädchen hatte nicht vergessen, wie verbissen Ermingarde bei ihrem Großvater darum gekämpft hatte, mit ihren Kindern im Retzmann-Haus aufgenommen zu werden, um Natis angeblich völlig unzureichende Erziehung zu übernehmen. Graf Retzmann hatte dieses Ansinnen jedoch abgelehnt und lieber die wechselnden Gouvernanten in Kauf genommen. Da diese sich von Ermingarde und ihrer Tochter gegen den Grafen und das Kind hatten aufhetzen lassen, waren sie ihres sehr gut bezahlten Postens stets rasch wieder enthoben worden.
Ermingarde Klampt versuchte auch Lore zu umgarnen und in Sicherheit zu wiegen. Dabei dachte sie unentwegt an den ostpreußischen Freiherrn, der ihren Brief inzwischen erhalten haben musste, und zählte die Tage, die dieser für die Reise nach Bremen benötigen würde. Dabei freute sie sich bereits auf den Skandal, der sie von Lore und Simmern befreien und zur unumschränkten Herrin im Hause Retzmann machen würde.
Obwohl Lore froh war, dass Ermingarde Klampt ihr nicht feindselig entgegentrat, flößte die Frau ihr ein ungutes Gefühl ein. Immer wenn sie sich mit der Dame unterhielt, hatte sie das Gefühl, ausgehorcht zu werden. Dabei galt Ermingardes Neugier nun weniger ihr selbst als Ruppert.
»Soweit man weiß, ist er nicht der Neffe unseres lieben Toten, sondern ein Kuckuck,
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