Dezembersturm
gut, zu wissen, dass sie einem anderen Menschen etwas bedeutete. Etwas in ihr wollte glauben, dass Fridolin wohl nicht nur aus Mitleid und verwandtschaftlicher Fürsorge so freundlich zu ihr war.
»Es ist wirklich schade, dass du nach Berlin zurückmusst«, wiederholte sie und war dann froh, dass Nati, der es am Fenster zu langweilig geworden war, zurückkam und unbedingt spielen wollte.
X.
Ottokar von Trettin musterte den Brief mit finsterem Blick. In den letzten drei Tagen hatte er den Wisch mindestens zehnmal in die Hand genommen und durchgelesen. Nun warf er ihn auf den Tisch und drehte sich zu seiner Frau um. »Rate du mir, was ich tun soll!«
Malwine nahm das Schreiben an sich und überflog es noch einmal,obwohl sie den Inhalt ebenso wie ihr Mann mit geschlossenen Augen zitieren konnte. »Was gibt es da noch zu zögern?«, erklärte sie mit gepresster Stimme. »Die verwitwete Frau von Retzmann teilt uns mit, dass Lore sich beim Vormund ihrer Großnichte angebiedert hat, um von diesem mit der Aufsicht über das Kind betraut zu werden.«
»Daran ist nichts auszusetzen. Wenn wir unseren Nachbarn erklären können, dass Lore sich bei der Familie des Grafen Retzmann befindet und dort als Gesellschafterin für dessen Enkelin tätig ist, wird uns keiner mehr vorwerfen, wir hätten das arme Mädchen in die Flucht getrieben!« Ottokar knirschte mit den Zähnen, denn dieser Vorwurf war ihnen schon ein paarmal gemacht worden. Gräfin Elchberg hatte ihm sogar erklärt, wenn Lore in der Ferne verderben würde, wäre dies allein seine und Malwines Schuld.
»Dieser Brief könnte uns helfen, einige Nachbarn zu überzeugen und diejenigen als Verleumder hinzustellen, die uns jetzt schneiden! Graf Elchberg hatte letztens die Unverfrorenheit, uns nicht zum Maskenball auf sein Schloss einzuladen!«
»Und was ist mit dem Geld? Die ehemalige Gräfin Retzmann – wie kann man nach dem Tod eines solchen Gatten einen bürgerlichen Fabrikanten heiraten! – schreibt, dass Lore viel Geld besitzen soll! Das muss die Summe sein, die dein Onkel dem Gut entnommen hat. Willst du darauf verzichten?« Malwines Stimme wurde schneidend.
Anders als ihr Mann sah sie nur eine Möglichkeit, dem Gerede in der Nachbarschaft ein Ende zu bereiten, nämlich Lore nach Trettin zurückzuholen. Natürlich würde sie das Mädchen nicht in die Küche stecken und als Spülmagd benutzen können, wie sie es am liebsten getan hätte. Aber niemand würde etwas daran aussetzen, wenn Lore ihre Garderobe schneiderte. Malwine war schon einige Male um das Kleid beneidet worden, das Lore im Auftrag derSchneiderin de Lepin genäht hatte, und sie hatte jedes Mal bedauert, dass es ihnen nicht gelungen war, das Mädchen rechtzeitig auf den Gutshof zu holen. Jetzt sah sie eine Chance, Lore in die Hände zu bekommen – und mit ihr das vom alten Trettin unterschlagene Geld. Wie groß die Summe war, die der frühere Gutsherr zusammengerafft hatte, wusste sie nicht, doch in ihrer Phantasie war es eine ganze Menge.
»Du wirst nach Bremen fahren und mit dieser Ermingarde Klampt sprechen. Wie es aussieht, will sie Lore loswerden. Daher wird sie dir gerne helfen, dieses pflichtvergessene Geschöpf auf den rechten Weg zu führen – und der führt hierher zu uns! Du tust damit sogar ein gutes Werk, denn unerfahren, wie Lore ist, könnte sie an schlechte Menschen geraten und dabei ihr Vermögen verlieren. Dann würde sie gar zu einer gefallenen Frau! Was meinst du, was die Nachbarn sagen würden, wenn dieses Miststück in einem Berliner oder Bremer Bordell zu finden wäre?«
Malwine ließ keinen Zweifel daran, dass es so zu geschehen hatte, wie sie wollte.
Im Gegensatz zu ihrem Mann war sie nicht bereit, vor der Nachbarschaft einzuknicken und auf die Summe zu verzichten, die Lores Großvater an sich gebracht hatte. Außerdem war es billiger, wenn Lore ihre Kleider fertigte, als wenn sie sie bei Madame de Lepin anfertigen ließ und doch nie ganz zufrieden war.
»Das Geld wäre wirklich ein Grund, Lore zurückzuholen. Laut Hausvertrag hätte sie zwar das Anrecht auf dieselbe Summe, die auch ihrer Mutter zugestanden hätte …« Weiter kam Ottokar nicht, da ihm seine Frau sogleich ins Wort fiel.
»Dieses Erbgeld ist Leonore Huppach, geborene von Trettin, bei ihrer Heirat ausbezahlt worden! Darauf hatten wir uns beide geeinigt. Lore steht kein einziger Groschen aus dem Vermögen des Gutes zu. Oder willst du wegen dieses renitenten Weibsbilds unsere eigenen Söhne an den
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