Dezembersturm
Bettelstab bringen?«
Das Leben auf Trettin war nicht gerade mit einem Bettelstab zu vergleichen, das wusste Malwine ebenso gut wie ihr Mann. Doch anders als ihn quälten sie keine Sorgen außer jenen, die sie sich um die Zukunft ihrer beiden Söhne machte. Sie litt auch nicht unter Alpträumen oder zuckte bei jedem Windstoß zusammen.
Ottokar aber hatte ganz andere Probleme als das Geld, das Lore angeblich besitzen sollte. Er schüttelte sich unter der Wucht nagender Erinnerungen und starrte gedankenverloren durch das Fenster ins Freie. Da nahm er einen Schatten am Waldrand wahr und trat unwillkürlich zurück.
»Es gefällt mir nicht, dich und die Jungen ausgerechnet jetzt allein zu lassen. Ich habe ein schlechtes Gefühl!«
»Hast du wieder dein Waldgespenst gesehen?«, fragte seine Frau höhnisch. »Bei unserem Heiland, was bist du nur für eine Memme!«
»Da war jemand! Ich habe ihn deutlich wahrgenommen.«
Malwine verzog verächtlich das Gesicht. »Da war höchstens ein wenig Schnee, der von einem Baum gefallen ist. Aber du machst ein Gesicht, als hättest du dem Tod ins Auge geblickt!«
Bei diesen Worten schlug Ottokar die Hände vors Gesicht. Seit seinen Schüssen auf Florin verspürte er eine Angst davor, noch einmal in das Rad des Schicksals einzugreifen. Dies versuchte er jetzt auch seiner Frau klarzumachen. »Ich habe das Gefühl, ich sollte die Sache mit Lore auf sich beruhen lassen. Das Gut steht ausgezeichnet da, und wir sind nicht auf das Geld angewiesen, das Lore bei sich hat. Unseren Jüngsten können wir auch ohne die paar Groschen in die Kadettenanstalt schicken und später standesgemäß versorgen. Also sollten wir den Nachbarn unseren guten Willen zeigen und Lore bei dieser angesehenen Familie lassen.«
Es waren ganz neue Töne, die Malwine von ihrem Mann zu hören bekam. Fassungslos schüttelte sie den Kopf und trat erregt auf ihnzu. »Du fährst nach Bremen und holst Lore her, verstanden? Tust du es nicht, mache ich es! Wegen ein paar neidischer Nachbarn geben wir nicht nach. Spätestens im Sommer wird die Beerdigung des alten Bocks vergessen sein, und die Einladungen aus der Nachbarschaft werden auch wieder bei uns abgegeben werden.«
Ottokar wusste, wann er geschlagen war, und senkte den Kopf. »Du bekommst deinen Willen, Weib, auch wenn alles in mir schreit, ich sollte besser hierbleiben und Lore in Ruhe lassen. Das Ganze wächst mir über den Kopf.«
Malwine strich ihm über die Wange und hauchte dann einen Kuss darauf. »Gerade deshalb solltest du diese Reise unternehmen. Du siehst andere Menschen, kannst unterwegs mit Standesgenossen reden und zeigst gleichzeitig unseren Nachbarn, wie sehr du dich um Lore sorgst.«
»Seit der Sache mit Florin ist mir, als lauere irgendwo das Verderben auf uns!«
»Bei Gott, was kümmert dich das Verschwinden des Kerls? Du hast jetzt einen neuen Kutscher, und der läuft nicht ständig mit einem sauertöpfischen Gesicht herum.«
»Wenn man ihn wenigstens gefunden hätte!« Ottokar wischte sich kurz über die Stirn, blickte dann noch einmal zum Fenster hinaus und sah nichts. Aufatmend wandte er sich wieder seiner Frau zu. »Du hast recht. Es sind Grillen! Ich werde fahren.«
Im Stillen beschloss Ottokar, ein paar Tage in Berlin haltzumachen und jenes Bordell zu besuchen, in das Fridolin ihn einmal geführt hatte. Das war erst ein Jahr her, und doch hatte sich in dieser Zeit viel für ihn geändert. Nun war er der Gutsherr auf Trettin, sein Onkel lebte nicht mehr, und Fridolin – nun, der ließ sich wahrscheinlich immer noch von Landpomeranzen aushalten, die in der Hauptstadt etwas erleben wollten.
»Vielleicht suche ich Fridolin auf und nehme ihn mit nach Bremen. Er ist mit Lore immer gut zurechtgekommen und wird siesicher davon überzeugen können, dass es das Beste für sie ist, nach Trettin zurückzukehren.« Er sprach seinen Gedanken laut aus und erntete sofort heftigen Widerspruch.
»Du wirst dich von diesem verkommenen Subjekt fernhalten! Fridolin ist ein Lump und wird noch in der Gosse enden.«
Malwine begriff durchaus, dass ihr Mann mit seinem Besuch in Berlin gewisse Absichten verband. Aber das störte sie wenig. Männer brauchten gelegentlich sexuelle Freiheit, um sich hinterher schuldig zu fühlen und die Wünsche ihrer Ehefrauen umso eilfertiger zu erfüllen.
XI.
Hätte Ottokar ein wenig später noch einmal durch das Fenster geblickt, wäre ihm erneut der Schatten am Waldrand aufgefallen. Es handelte sich um Florin,
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