Dezembersturm
bewältigen konnte. Allerdings vertraute sie Elsie die Pflege ihres Großvaters nicht mehr an, nachdem sie eines Donnerstags in Doktor Mützes Begleitung nach Hause gekommen war und ihren Großvater in seinem Schmutz liegend vorgefunden hatte. Von ihm hatte sie erfahren, dass Elsie bereits am Mittag das Haus verlassen hatte.
Seitdem bat Lore jedes Mal den alten Kord, sich während ihrer Abwesenheit um ihren Großvater zu kümmern. Beide schienen mit dieser Lösung zufrieden zu sein, denn der Knecht hing an seinem früheren Herrn, der im Gegensatz zu seinem Nachfolger zu allen Leuten gerecht gewesen war. Was Wolfhard von Trettin und Kord miteinander zu besprechen hatten, erfuhr Lore nicht. Sie bemerkte nur, dass die beiden sie immer wieder nachdenklich musterten. Oft erschien es ihr, als würde Kord Anweisungen des alten Herrn am liebsten widersprechen. Aber jedes Mal nickte er schließlich ergeben und erklärte, dass er alles tun werde, was der Kranke von ihm verlange.
Als Lore an diesem Tag Kords Kate betrat, die nur aus einem einzigenRaum bestand, nähte dieser an einem festen Segeltuchmantel, wie ihn die ärmeren Schiffer auf dem Haff trugen. Bei ihrem Anblick schoss er hoch und nahm die Mütze ab. »Einen schönen guten Morgen, Fräulein Lore. Ich hoffe, dem Herrn geht es diesmal besser als beim letzten Mal.«
Lore schüttelte den Kopf. »Leider nicht! Er will es sich nicht anmerken lassen, aber ich kann es an seinen Augen erkennen. Daher wäre es mir lieb, wenn du auch heute nach ihm sehen könntest.« »Freilich mache ich das! Ich bin auch gleich mit meiner Arbeit fertig, die er mir aufgetragen hat.« Kord zeigte auf den Mantel und wollte noch mehr sagen, schlug sich dann aber mit einer erschrockenen Geste auf den Mund und blickte das Mädchen an wie ein Hund, der etwas ausgefressen hat und die Rute seines Besitzers fürchtet.
»Verraten Sie mich bitte nicht an den Herrn, Fräulein Lore, denn es soll ja keiner etwas davon wissen.«
»Auch ich nicht?«
Kord hob beschwörend den rechten Zeigefinger. »Keiner!, hat der Herr gesagt, und von mir wird niemand was erfahren. Aber beeilen Sie sich lieber, Fräulein Lore, denn ich habe vorhin einen Wagen des Fuhrunternehmers Wagner zum Gut fahren sehen. Wenn der Kutscher zurückkommt, wird er Sie gewiss in die Stadt mitnehmen.«
»Danke, Kord, und auf Wiedersehen!« Erleichtert, diesmal nicht lange auf eine Mitfahrgelegenheit warten zu müssen, verließ Lore die Kate und eilte zur Straße.
Kord sah ihr einen Augenblick nach, dann beugte er sich wieder über den Segeltuchmantel und nähte mit verbissener Miene weiter. Dabei schüttelte er mehrmals den Kopf und fragte sich, wie das alles noch enden sollte.
II.
Nach wenigen Minuten hörte Lore Hufschläge hinter sich und das Geräusch eisenbereifter Wagenräder. Kurz darauf schloss ein großer Wagen mit festen Bordwänden zu ihr auf. Der Kutscher blickte auf sie herab und zügelte seine beiden schwergebauten Kaltblüter.
»Brrr, Hannes und Lothar! Wir wollen das Fräulein doch nicht zu Fuß laufen lassen.« Obwohl der Novemberwind recht scharf wehte, zog er die Mütze vor Lore und bot ihr den Platz an seiner Seite an. Mit seinem gutmütigen, roten Gesicht und seinem dicken Mantel sah er vertrauenerweckend aus. Daher bedankte sich Lore höflich und stieg auf. Der Mann war kein Schwätzer, denn außer dem »Hüh!«, mit dem er sein Gespann wieder antrieb, vernahm sie auf dem weiteren Weg keinen Laut von ihm.
Das gab ihr Zeit, den eigenen Gedanken nachzuhängen. Zum ersten Mal seit Monaten hatte Lore das Gefühl, das Leben könne doch noch einen kleinen, freundlichen Winkel für sie bereithalten. In der Kiepe, die sie bei sich trug und die sie wie ein gewöhnliches Bauernmädchen aussehen ließ, lag sorgfältig verpackt ein Festkleid, das sie in langer, mühsamer Arbeit genäht hatte. Madame de Lepin hatte ihr einen Taler extra versprochen, wenn dieses Kleid zur Zufriedenheit der Kundin ausfallen würde.
Diesen Taler wollte sie anders als den, den Fridolin ihr gegeben und Großvater ihr weggenommen hatte, für ihre Zukunft sparen. Es war nur ein Anfang, denn um ihr Leben später in die eigene Hand nehmen zu können, musste sie mindestens zwanzig preußische Taler besitzen. Dafür würde sie noch viele hundert Stunden mit mühsamer Stichelei verbringen müssen. Doch mit dem Optimismus der Jugend war Lore überzeugt, dass sie es schaffen würde.
Da Doktor Mütze jedes Mal, wenn er zum Jagdhaus kam, einengroßen
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