Dezembersturm
Korb voller Lebensmittel mitbrachte, hatte sie schon ein wenig von ihrem selbstverdienten Geld beiseitelegen können. Sie wollte es zwar in erster Linie für ihren Großvater verwenden, doch wenn ein wenig für sie übrig blieb, würde es ihr eine große Hilfe sein.
Am liebsten hätte sie sich den Lohn für Elsie gespart. Das Dienstmädchen kam immer unregelmäßiger und tat höchstens die Hälfte dessen, was ihr aufgetragen wurde.
Da Lore jedoch nähen und dazu auch noch lernen musste, blieb ihr nichts anderes übrig, als das schlampige Ding zur Arbeit zu treiben. Aber ohne die Hilfe des alten Kord, der zuverlässig die Reparaturen im und am Haus erledigte, wären sie trotzdem nicht über die Runden gekommen.
Lore hatte dem Knecht für all das, was er tat, wenigstens etwas Geld geben wollen, aber er hatte sie harsch abgewiesen. Er sei von seinem Herrn immer gut behandelt worden, hatte er ihr erklärt, und es sei eine Schande, wie sein Neffe den alten Freiherrn um das Gut gebracht habe. Außerdem würde er für die kleinen Dienste, die er leistete, im Wald seines Herrn Feuerholz für sich und die alte Miene holen.
Nicht zum ersten Mal stiegen Lore bei der Erinnerung an die Worte dieses treuen Mannes Tränen in die Augen. Solange es Menschen gab, die ihr und ihrem Großvater beistanden, sah die Zukunft nicht allzu düster aus. Dennoch musste sie ihr weiteres Schicksal selbst in die Hand nehmen. Wenn es ihr nicht gelang, so viel Geld zu sparen, dass sie von einem Tag auf den anderen von hier weggehen und auf eigenen Füßen stehen konnte, würde sie unter die Knute ihrer adeligen Verwandtschaft auf Trettin geraten.
Der Gedanke, später als unbezahlte Dienstbotin unter Malwines Knute auf dem Gut leben und arbeiten zu müssen, erfüllte sie mit Grausen. Seit sie wusste, dass Ottokar von Trettin an ihrem brennendenElternhaus vorbeigefahren war, ohne ihre Familie zu wecken, hasste sie diesen Mann mit einer Inbrunst, die sie manchmal erschreckte. Natürlich hatte niemand es gewagt, den größten Grundherrn weit und breit offiziell der unterlassenen Hilfeleistung zu beschuldigen. Doch Lore hatte inzwischen hinter vorgehaltener Hand auch von anderen Dorfbewohnern gesagt bekommen, dass man in der Unglücksnacht vom Knallen der Peitsche und dem Hufschlag der vier Wagenpferde geweckt worden sei.
Also würde der Mann, der ihre Angehörigen beinahe genauso auf dem Gewissen hatte, als wenn er sie selbst umgebracht hätte, ihr Vormund werden, wenn ihr Großvater starb. Die Frauen im Dorf, die selbst nichts anderes kannten als Armut und die harte Arbeit auf den Feldern, bedauerten sie bereits jetzt und prophezeiten ihr ein Sklavenleben unter der Fuchtel der hochmütigen Frau des Majoratsherrn.
Aber wenn sie diesem gottverlassenen Teil Ostpreußens, in dem die Zeit, wie der alte Herr behauptete, seit Jahrhunderten stehengeblieben war, den Rücken kehren wollte, benötigte sie genug Geld, um nach Berlin fahren und sich bei einem Modegeschäft als Lehrling einkaufen zu können.
Von Luise, einer der Näherinnen bei Madame de Lepin, hatte sie erfahren, dass allein das Lehrgeld zwölf Taler betrug, und da sie dazu noch ihren Lebensunterhalt bestreiten musste, würden zwanzig Taler gerade eben ausreichen. Luise hatte ihr auch die Gefahren der großen Stadt vor Augen geführt und sie eindringlich davor gewarnt, dorthin zu reisen.
Aber auch ohne die Schreckensbilder der Näherin hatte Lore Angst, sich ganz allein in der Hauptstadt Preußens und des neuen Deutschen Reiches durchschlagen zu müssen. Gleichzeitig war sie bereit, schwer zu arbeiten und notfalls auch zu hungern, um den Krallen der Sippschaft auf Trettin zu entkommen.
Mit diesem schon oft wiederholten Entschluss und der Hoffnung,dass Madame de Lepin nichts an ihrer Arbeit auszusetzen fände, verabschiedete sie sich in der Stadt von dem schweigsamen Fuhrmann und betrat das Haus der Schneiderin über die Hintertreppe, wie es sich für Lieferanten und Dienstboten geziemte.
III.
Als Lore das Atelier betrat, wirkte Madame de Lepin nervös. »Liebes Mädchen, was bin ich froh, dass du pünktlich kommst. Freifrau von Trettin will ihr neues Kleid nämlich heute noch abholen. Du hast doch hoffentlich sehr sorgfältig gearbeitet! Die Dame ist äußerst anspruchsvoll, musst du wissen, und wenn sie unzufrieden ist, kann sie mir meinen Ruf als Couturière ruinieren! Oh, hoffentlich passt es! Du musst hierbleiben und mir beim Abnähen helfen. Keine Sorge, ich gebe dir dafür ein
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