Dezembersturm
mir das Licht zu hell, aber Elsie muss noch etwas sehen können, wenn sie hereinkommt.« Lore seufzte, denn sie hätte lieber eine Kammer für sich allein gehabt. Ihr stand nicht der Sinn danach, sich die halbe Nacht Elsies Gejammer anhören zu müssen, und dazu würde es mit Sicherheit kommen.
Dabei benötigte sie selbst Trost, denn ihr bisheriges Leben war nun zum zweiten Mal nach dem grauenvollen Tod ihrer Familie in Scherben zerfallen. Bedrückt fragte sie sich, wie es ihrem Großvater gehen mochte. Der Gedanke, er würde bald sterben oder sei sogar schon tot, brannte wie Säure in ihrem Inneren. Auch daran war Ottokar von Trettin schuld. Hätte der Mann ihre Familie gewarnt, wären ihre Eltern und Geschwister rechtzeitig aus dem brennenden Haus entkommen und ihr Großvater hätte mit Sicherheit nicht jenen verhängnisvollen Schlaganfall erlitten, der den früher so lebensfrohen Freiherrn in ein Wrack verwandelt hatte.
Für einen Augenblick wünschte sie sich die Macht, Ottokar von Trettin alles heimzahlen zu können, was er ihr und ihrer Familie angetan hatte. Doch der gütige Gott im Himmel, von dem der alte Pastor immer gesprochen hatte, hielt es wohl mehr mit den Reichen und Mächtigen dieser Welt, und auch Hochwürden Starzigs katholische Heilige hatten anderes zu tun, als sich um ein armes und einsames Mädchen wie sie zu kümmern.
Über diesen ketzerischen Gedanken erschrocken, betete Lore leise zu Gott und Herrn Jesus Christus, damit sie ihren Großvater gnädig aufnahmen und sie auf ihrem weiteren Weg beschützten. Darüber nickte sie ein. Als sie tief in der Nacht durch ein lautes Geräusch hochschreckte und sich umsah, sah sie im schwachenSchein der auf Sparflamme brennenden Petroleumlampe, dass Elsie noch nicht in ihrem Bett lag.
VII.
Gustav führte Elsie in ein kleines Nebenzimmer, das eigentlich als Salon für höherstehende Gäste gedacht war. Die Magd, die sie bediente, machte ein abweisendes Gesicht, denn sie kannte Wagners Angestellten und dessen Ruf. Wie es aussah, war er gerade dabei, eine weitere Dummliese einzuwickeln, die sich hinterher ebenso wie all die anderen Mädchen die Augen ausweinen würde. Während Elsie einen Teller Hühnersuppe, ein großes Stück Schweinebraten mit Klößen und einen Grießbrei mit eingemachten Kirschen verspeiste, unterhielt sie sich mit Gustav über Belanglosigkeiten. Als sie sich schließlich satt zurücklehnte, bestellte er bei der Wirtsmagd noch ein Kännchen Kaffee und zwei Gläser Wein. Nun hielt er den Augenblick für geeignet, mehr über ihre und Lores überstürzte Abreise zu erfahren. Er wartete, bis die Magd gegangen war, hob sein Glas und stieß mit Elsie an. »Auf dein Wohl!«
»Auf das deine!« Elsies Stimme bebte, denn die Angst vor den kommenden Tagen und vor allem vor der weiten Schiffsreise nach Amerika kroch wieder in ihr hoch.
Gustav legte ihr die Hand auf den Arm. »Du zitterst ja! Das musst du nicht. Willst du mir dein Herz ausschütten? Ich bin ein guter Zuhörer.«
Elsie kämpfte mit den Tränen. »Du kannst mir doch nicht helfen!« »Vielleicht doch! Aber dazu muss ich erfahren, was es mit dieser Reise auf sich hat. Sonst sagt mir der Chef immer, was in dennächsten Tagen ansteht, aber ich habe erst heute Morgen erfahren, dass ich euch nach Bremerhaven bringen soll. Wagner hat sehr geheimnisvoll getan und mir aufgetragen, niemandem ein Wort davon zu sagen. Wenn ich nicht die Maschine vom Schiff abholen müsste, die Graf Elchberg in Amerika bestellt hat, hätte er mir wahrscheinlich nur befohlen, euch nach Heiligenbeil zur Bahn zu schaffen.«
Elsie schniefte und trank noch einen Schluck Wein, bevor sie antwortete. »Ich habe auch nichts davon gewusst, bis Herr von Trettin es mir heute Mittag mitgeteilt hat. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erschrocken ich war und jetzt noch bin. So eine lange Reise, und dann noch mit einem Schiff! Fräulein Lore und ich werden niemals nach Amerika gelangen.«
»Was sollt ihr eigentlich da drüben machen?«
»Fräulein Lore soll bei den Franziskanerinnen bleiben, bis sie volljährig ist, und ich …« Elsie brach ab, um ihre Gedanken zu ordnen. »Herr von Trettin hat mir ein wenig Geld gegeben, damit ich in Amerika ein neues Leben beginnen kann. Aber was nützt mir das Geld, wenn ich gar nicht erst drüben ankomme, sondern womöglich mit dem Schiff untergehe?«
Gustavs Augen leuchteten auf. »Er hat dir Geld gegeben? Wie viel denn?«
»Ich könnte mir damit hier in Heiligenbeil oder
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