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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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das Schiff nicht verpassen. Daher beeilte sie sich mit ihrer Morgenwäsche, zog sich an und begleitete Lore in die Gaststube, in der schon das Frühstück auf sie wartete. Während sie Malzkaffee tranken und deftig belegte Brote aßen, kam Gustav herein.
    Ihm war nicht anzusehen, dass er den Großteil der Nacht wach gewesen war, denn er grüßte die beiden fröhlich und wies dann mit dem Daumen in Richtung Bahnhof. »Der Zug aus Königsberg wird bereits angezeigt. Er ist spätestens in einer Viertelstunde hier.«
    »In einer Viertelstunde schon? Da müssen wir uns beeilen!« Lore sprang auf und trank ihren letzten Malzkaffee im Stehen. Im Gegensatz zu ihr hatte Elsie nach der anstrengenden Nacht Hunger und schmierte sich daher noch ein Brot.
    »Jetzt komm! Trödle nicht so herum!«, fuhr Lore auf, denn sie nahm an, Elsie mache extra langsam, damit sie den Zug verpassten. Dann wandte sie sich Gustav zu. »Was ist mit unserem Gepäck?«
    »Das steht bereits auf dem Bahnsteig und wird verladen, sobald der Zug hält. Ich höre die Lokomotive schon pfeifen!«
    Gustavs Ausruf brachte Elsie dazu, aufzuspringen und zum Wirt zu gehen, um die Rechnung zu bezahlen. Da sie mit dem Trinkgeld geizte, verließen die drei unter dem missbilligenden Schnauben des Wirtes und seines Gesindes den Gasthof. Kurz darauf fuhr der Zug in den Bahnhof ein, und als er sich wieder in Bewegung setzte, hatte Lore das Gefühl, von einer unbarmherzigen Hand ins Ungewisse gestoßen zu werden.

X.
     
    Während der Fahrt sah Lore nur die Bahnhöfe und den jeweiligen Gasthof in deren Nähe, denn Elsie war nicht bereit, auch nur den kleinsten Spaziergang zu wagen. Außerdem kannte sie kein anderes Thema als all die Unglücksfälle, die ihr und ihrer früheren Herrin bei ihren Reisen angeblich zugestoßen waren. Wollte Lore ihr Glauben schenken, so sprang jeder dritte Zug aus den Schienen, und beinahe jedes Schiff, das den Atlantik überqueren wollte, ging unter, strandete oder fiel Piraten in die Hände.
    Lore beschlich der Verdacht, ihr Dienstmädchen habe sich das alles aus jenen Journalen und Gazetten zusammenphantasiert, die sie so gerne gelesen hatte. Denn soweit sie wusste, war die alte Dame, bei der Elsie angestellt gewesen war, all diesen Räuberpistolen zum Trotz friedlich in ihrem Bett gestorben. Das hielt sie ihrer Begleiterin vor, um sie zu beruhigen. Aber sie hätte ebenso gut versuchen können, einen brennenden Herd mit einer Schneeflocke zu löschen.
    Nur wenn Gustav sich zu ihnen gesellte, vergaß Elsie ihre Schauergeschichten, so dass Lore bald sogar froh war, wenn er auftauchte. Allerdings benahm er sich für ihr Gefühl allzu selbstherrlich.Er bestimmte, wo sie übernachten sollten, und bestellte das Essen, ohne sie nach ihren Wünschen zu fragen. Obwohl sie sich zumeist in ihrer Trauer um ihren Großvater vergrub und den Verlust ihrer Eltern und Geschwister durch ihr Gefühl der Heimatlosigkeit beinahe stärker empfand als direkt nach dem Brand, ärgerte sie sich über den jungen Mann nicht weniger als über Elsie, die Gustav anhimmelte und an seinen Lippen hing.
    Lore war allerdings zu sehr mit dem Schmerz über den Verlust all dessen beschäftigt, was sie geliebt hatte, um der auffallenden Vertrautheit der beiden größere Bedeutung beizumessen. Während der eintönigen Bahnfahrt flogen ihre Gedanken zurück in das Jagdhaus im Wald, und sie fragte sich, wie es ihrem Großvater ergehen mochte. Ob er noch lebte? Würde Kord ihn auch richtig versorgen? Ganz konnte sie sich das nicht vorstellen, und sie bat den treuen Knecht im Stillen für dieses Misstrauen um Verzeihung. Kord würde sein Leben für den alten Herrn hingeben, das wusste sie. Manchmal dachte sie auch an das Gutshaus und seine neuen Besitzer und war dann um jede Meile froh, die die Lokomotive sie weiter von dort fortbrachte.
    In Bremen hätten Elsie und sie eigentlich auf die Nonnen warten sollen, um mit diesen zusammen weiterzureisen. Doch nach ihrer Ankunft schien das Dienstmädchen von einer ungewöhnlichen Ungeduld erfasst zu werden. »Warum sollen wir hier warten, Fräulein Lore? Gustav muss im Auftrag seines Patrons noch heute nach Bremerhaven weiterfahren. Wenn wir ihn begleiten, kann er uns zum Schiff bringen, und dort werden wir die Nonnen sicher leichter finden als hier. Was ist, wenn die frommen Frauen in einem anderen Gasthof übernachten oder gleich weiterfahren, weil sie denken, wir würden uns ihnen erst auf dem Schiff anschließen?«
    Elsies Worte ließen

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