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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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angefangen, bis zu deren Sicherheit. Selbst wenn unser Schiff sinken würde, was natürlich nicht geschehen wird, haben wir mit den Rettungsbooten und den neuen Patentflößenmehr als ausreichend Platz für alle Menschen an Bord. Außerdem …«
    Lore war schließlich froh, als sie die Kabine erreicht hatten und der redselige Mann wieder gegangen war. Während sie ihre Gedanken sammelte, blickte sie sich um. Der Raum war winzig. Es gab auch kein Fenster – oder Bullauge, wie man es auf einem Schiff nannte –, durch das sie nach draußen hätte schauen können, sondern nur eine schmale Glasscheibe über der Tür. In dem fahlen Licht der Korridorlampen, das vom Gang hereinfiel, erblickte sie grau-beige tapezierte Wände, zwei schmale Betten, eine Kommode mit eingelassenem Waschbecken sowie einen Spind, der leer war.
    Verwundert rieb sie sich über die Stirn. Eigentlich hätten ihre Koffer bereits hier sein müssen. Doch selbst als sie die Kabine untersuchte und dabei sogar unter die Betten schaute, waren diese nicht aufzufinden. Anscheinend hatte Elsie doch nicht aufgepasst, und deswegen waren die Koffer samt der Seekiste im Bauch des Schiffes verstaut worden. Sie trug nur die alte Wachstuchtasche mit dem Segeltuchmantel bei sich, in die Elsie zusätzlich noch ihr Waschzeug und weitere Unterwäsche gesteckt hatte.
    Da Lore Durst verspürte, trat sie an die schmale Waschkommode und prüfte das Wasser in der Kanne. Es wirkte frisch, und sie trank in gierigen Schlucken. Danach fühlte sie sich etwas besser. Aber die Angst, dass die Reise nicht ganz so verlaufen würde, wie ihr Großvater es geplant hatte, wollte nicht weichen. Nicht Elsie würde auf sie, sondern sie auf Elsie aufpassen müssen, sonst beging das Mädchen noch mehr Fehler.
    Wenigstens hatten sie eine Kabine für sich allein, auch wenn es sich nur um eine enge, wenig anheimelnde Kammer handelte. Lore dachte an das, was sie unterwegs über die Einrichtung des Auswandererdecks gehört hatte, und schüttelte sich. Die Reise tief unten im Bauch des Schiffes, mit Dutzenden von Zwischendeck-passagierenin einem Raum und ohne die Möglichkeit, wenigstens hie und da für sich allein zu sein, wäre die Hölle für sie gewesen.
    Um sich von diesen Gedanken abzulenken, packte sie ihre Tasche aus und verstaute den Inhalt im Spind. Danach wollte sie auch Elsies Habseligkeiten wegräumen. Doch als sie die Reisetasche ihrer Begleiterin öffnete, fand sie nur Packpapier und einen alten Sack darin.
    Lore starrte fassungslos auf den Inhalt der Tasche und wühlte dar in herum, weil sie hoffte, darunter doch noch Elsies Unterwäsche und Ersatzkleidung zu finden. Da war jedoch nichts. Erschrocken faltete sie die Hände und flehte die Heilige Jungfrau an, sie aus diesem bösen Traum zu erlösen.
    Mit einem Mal hielt sie es in der bedrückenden Kabine nicht mehr aus und lief nach draußen, um das Dienstmädchen zu suchen. Doch als sie auf dem Korridor stand, glaubte sie die Stimme ihres Großvaters zu hören.
    »Behalte den Mantel immer griffbereit und lass dich von niemandem überreden, darauf zu verzichten.«
    Rasch kehrte sie um, zog den Segeltuchmantel über ihren Wollmantel und schlang sich den viel zu langen Gürtel mehrfach um die Taille. Als sie dann durch das Schiff eilte, versuchte sie, sich an den Weg zur Gangway zu erinnern. Dennoch stand sie mit einem Mal ganz vorne am Bug, hielt sich an der Reling fest und starrte hilflos auf den Platz hinab, auf dem etliche Menschen geschäftig umhereilten.
    Der Schornstein des Schiffs stieß nun immer dichter werdende Qualmwolken aus, und an den bordeigenen Kränen wanderten gerade die letzten Fässer und Pakete in den Laderaum des Schiffes. Auf ein lautes Tuten hin wurden die Landestege eingeholt und die Leinen gelöst, die den Dampfer am Kai festhielten.
    Als Lore sich abwenden und wieder zur Kajüte zurückkehren wollte, entdeckte sie Elsie und Gustav neben der Wartehalle. Diebeiden stiegen gerade auf ein Pferdefuhrwerk, das von einem abgerissen aussehenden Kutscher gelenkt wurde, und hielten sich dabei an den Händen. Auf der Ladefläche hinter dem Bock stand neben den beiden Koffern auch die Seekiste, die ihr der Großvater mitgegeben hatte.

XII.
     
    Lore sah fassungslos dem Karren mit Elsie und ihrem Liebhaber hinterher, bis das wacklige Gefährt im aufkommenden Schneegestöber zwischen den Häusern der Stadt verschwunden war. Dabei vollführten ihre Gedanken einen wilden Tanz. Warum, fragte sie sich, hatte Elsie sie so im

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