Dezembersturm
»Gustav und ich haben alles erledigt. Sobald das Signal ertönt, können wir an Bord gehen!«
Lore wunderte sich über Elsie, denn die klang mit einem Mal so, als würde sie sich auf die Reise freuen. Doch sie kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken, denn die Ankunft eines Zuges, der auf den Platz zwischen der Wartehalle und dem Dampfer einfuhr, lenkte sie ab. Nun strömten weitere Menschenmassen in die Halle, und unter diesen waren auch die ersten bessergestellten Passagiere. Die fünf Nonnen, auf deren Ankunft sie wartete, entdeckte sie in der Menge jedoch nicht.
Kaum hatte der Zug sich geleert, fuhr er wieder los, und keinen Atemzug später ertönte die Schiffssirene wie der Ruf eines gewaltigen Ungeheuers. Angestellte der Reederei forderten die Passagiere des NDL-Schnelldampfers
Deutschland
auf, sich auf das Schiff zu begeben und ihre Fahrkarten und Personalpapiere bereitzuhalten. Sofort griff Elsie nach den beiden Reisetaschen, diesie mit in die Kabine nehmen wollten, und stieß einen verärgerten Laut aus.
»Ich vermisse meine Handtasche! Kommen Sie, Fräulein Lore. Ich bringe Sie schon aufs Schiff und laufe dann noch einmal zum Büro. Vielleicht hat jemand sie gefunden und abgegeben!«
Lore zuckte entsetzt zusammen, denn in der Handtasche befanden sich ihrer beider Papiere, das Geld und die Fahrkarten für die Überfahrt. Als Elsie losgegangen war, um nach Gustav zu schauen, hatte sie diese Tasche, eng an sich gepresst, mitgenommen.
»Was ist mit unseren Fahrkarten und den Pässen? Ohne die kommen wir doch nicht an Bord!«
»Die habe ich vorhin einem Angestellten der Reederei zeigen müssen und in meine Manteltasche gesteckt. Dabei muss ich die Handtasche liegen gelassen haben. Kommen Sie schnell, damit ich nachsehen kann, ob sie gefunden worden ist.« Elsie zerrte Lore wie ein kleines Kind hinter sich her und schob sich rücksichtslos durch die anderen Passagiere. Beschwerden und das Geschimpfe hinter ihnen ignorierte sie ebenso wie den tadelnden Blick des uniformierten Reedereiangestellten, der mit einem Kollegen zusammen am Fuß der Landebrücke die Papiere der Reisenden kontrollierte.
Elsie hielt ihm die Fahrkarten und die Pässe unter die Nase und eilte sofort weiter, als der Uniformierte sie durchwinkte. An Deck angekommen, sprach sie einen Mann an, der in seinem weißen Frack wie ein Kellner aussah, und drückte ihm die beiden Reisetaschen in die Hand.
»Bringen Sie meine junge Herrin bitte schon in unsere Kabine, Nummer 29. Hier sind ihre Passage-Unterlagen und ihr Pass. Ich muss noch einmal an Land, weil ich meine Handtasche verloren habe! Fräulein Lore, warten Sie bitte in der Kabine auf mich! Ich werde mich beeilen! Laufen Sie inzwischen nicht allein auf dem Schiff herum!«
Mit diesen Worten machte Elsie kehrt und kämpfte sich durch den Strom der Passagiere, die an Bord eilten, zurück an Land. Lore sah ihr nach und hatte mit einem Mal einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Irgendetwas lief falsch. Aber ehe sie diesen Gedanken festhalten konnte, sprach der Mann im Kellnerfrack sie an. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Fräulein!«
Unterwegs stellte er sich ihr als dritter Steward der zweiten Kajüte vor. Das verwirrte Lore noch mehr, denn in den Passagierunterlagen war diese Klasse als »erste Kajüte, unterer Salon« bezeichnet worden.
Als sie nachfragte, beruhigte der Steward sie. »Keine Sorge, Fräulein. Sie haben genau die Kabine, die für Sie gebucht worden ist. In den Reedereiprospekten wird die zweite Klasse als erste Kajüte, unterer Salon, beschrieben, damit die Herrschaften, die auf diese Art reisen, sich nicht mit den Zwischendeckpassagieren verwechselt sehen. Sie werden auf alle Fälle eine wunderbare und unterhaltsame Überfahrt haben, denn genau wie Sie hat eine ganze Reihe netter Mitreisender ihre Überfahrt im unteren Salon gebucht, darunter auch fünf junge Nonnen, die mit dem letzten Zug angekommen sind.«
Lore bedauerte, dass sie die Frauen nicht in der Masse der anderen Passagiere hatte ausmachen können, und beschloss, Elsie nach deren Rückkehr sofort zu den frommen Schwestern zu schicken, um diesen mitzuteilen, dass sie ebenfalls wohlbehalten auf dem Schiff angelangt war.
Der Steward bemerkte Lores Unsicherheit und gab ihr noch eine Menge aufmunternder Ratschläge. Dabei versuchte er, ihre Ängste bezüglich der Schiffsreise zu vertreiben. »Keine Sorge, Fräulein. Unsere Reederei hat an alles gedacht, von der Bequemlichkeit unserer Passagiere
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