Dezembersturm
Stich gelassen? Zwar hatte das Dienstmädchen sich vor der Überfahrt gefürchtet, aber drüben in Amerika hätte sie ein neues Leben anfangen können und nie mehr schlechtbezahlte Dienstbotenarbeit verrichten müssen. Lore musste an ihren Großvater denken, der alles so genau geplant und sich doch getäuscht hatte. Verzweiflung packte sie, und während ihr die Tränen über die Wangen rannen, nahm sie nicht einmal wahr, wie das riesige Schiff von Schleppern in den Fluss gezogen wurde.
Irgendwann sprach ein Mann in Uniform sie an und schickte sie die Treppe hinab auf das nächste Deck. Wie aus weiter Ferne tauchte plötzlich die Erinnerung an ihre Kabine auf, in der sie sich verkriechen konnte. Lore wusste jedoch nicht mehr, wo ihr Unterschlupf zu finden war, und hatte auch nicht den Mut, einen Fremden danach zu fragen. So irrte sie verzweifelt umher, bis sie sich in einem großen, von Dutzenden von Gaslampen taghell erleuchteten Saal wiederfand. Für einen Augenblick vergaß sie Elsie, dennes war, als sei sie aus einem düsteren Alptraum in eine Märchenwelt geraten.
Der Raum hatte die Ausmaße eines Ballsaals mit riesigen, schräg stehenden Deckenfenstern, durch die jetzt nur spärliches Licht hereindrang. Große, trotz des Winters mit frischen Blumen geschmückte Tische zogen sich wie Perlen an einer Schnur durch die ganze Länge des Saals und wurden rechts und links von weichgepolsterten Bänken mit zierlichen Rückenlehnen flankiert. Ringsum an den Wänden gab es mindestens zwei Dutzend von Statuen umrahmte Nischen, in denen samtüberzogene Sofas standen. Auf dem Boden und auch auf den Tischen lagen wunderschöne, weiche Orientteppiche. So kostbar war nicht einmal das Herrenhaus von Trettin eingerichtet, und das hatte als eines der schönsten im ganzen Landkreis gegolten.
Gerade als Lore vorsichtig mit der Hand über eines der Sofapolster strich, öffnete sich neben ihr eine Tür, die wie die Wand um sie herum ebenfalls mit Samt überzogen war und die sie daher nicht bemerkt hatte. Sie zuckte erschrocken zusammen. Mittlerweile hatte sie begriffen, dass sie sich in den Teil des Schiffes verirrt hatte, in dem die reichen Passagiere untergebracht waren. Als sie sich umblickte, sah sie ein zierliches Mädchen von vielleicht sechs Jahren auf sich zukommen.
Das Kind musterte sie von Kopf bis Fuß mit großen Augen, und Lore wurde sich ihres hässlichen Mantels und ihrer schlichten Kleidung darunter schmerzlich bewusst. Ihr gutes Kleid und die wenigen schönen Sachen, die sie sich neben ihrer anderen Arbeit selbst genäht hatte, steckten in den Koffern, mit denen Elsie und Gustav verschwunden waren.
»Wer bist du denn?«, fragte das kleine Mädchen mit einem engelhaften Lächeln. »Bist du eine Auswanderin aus dem Zwischendeck? Dann musst du aber ganz schnell wieder gehen, wenn du keinen Ärger haben willst. Komm, ich bringe dich nach unten!«
Lore beugte sich zu dem Mädchen hinunter, das sie an ihre tote Schwester erinnerte, und reichte ihr die Hand. Gleichzeitig räusperte sie sich, um den Frosch im Hals loszuwerden.
»Meine Kabine ist aber in der ersten Kajüte – unterer Salon oder so ähnlich. Kannst du mich da hinbringen? Ich habe mich verlaufen!«
»Ja, das kann ich. Ich kenne mich auf Schiffen sehr gut aus. Komm mit! Kennst du die Nummer eurer Kabine? Ich kann schon Zahlen lesen, weißt du? Ich bin sieben Jahre alt und damit eine junge Dame, die man zu respektieren hat. Das sagt jedenfalls mein Großvater, den ich auf seiner Reise begleite. Mein Name ist Nathalia von Retzmann, und ich bin eine Komtess. Ich fahre jetzt schon zum fünften Mal über den Ozean!«
Das klang so stolz und selbstbewusst, dass Lore lächeln musste und darüber ihre Verlassenheit und ihre Angst für einen Augenblick vergaß. Ein wenig erinnerte das Mädchen sie an die übergroße Porzellanpuppe, die »Mama« sagte, wenn man sie hinlegte, und die zuerst ihr und dann ihrer kleinen Schwester gehört hatte. Nur hatte ihre Puppe nie so kostbare Kleider besessen wie die kleine Komtess. Das Kind stampfte ungeduldig auf, als ginge es ihr mit der Antwort nicht schnell genug.
»Ich heiße Lore Huppach und reise zum ersten Mal in meinem Leben irgendwohin. Ich habe auch einen Großvater, und der hat mich einfach nach Amerika geschickt!«
»Ohne deine Eltern?«, fragte Nathalia neugierig.
»Die sind tot, und meine kleinen Geschwister sind ebenfalls umgekommen, als unser Haus abgebrannt ist. Ich lebe noch, weil ich bei meinem Großvater
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