Dezembersturm
doch noch einzuholen. Erst einmal konnte er das Mädchen zu sich nehmen und es später zuVerwandten schicken, bei denen es sich vor Ottokar und dessen angeheirateter Megäre verstecken konnte.
Doch kaum hatte er ein wenig mehr als eine Viertelmeile auf der Landstraße zurückgelegt, sah er in der aufziehenden Dämmerung eine Gestalt auf seinen Wagen zulaufen.
»Herr Doktor, welch ein Glück, dass ich Sie hier treffe. Bei uns auf dem Gut hat es einen schweren Unfall gegeben. Kommen Sie schnell! Es geht um Leben und Tod!«
Doktor Mütze nickte und bat den Mann aufzusteigen. Während sie im flotten Tempo zum Gutshof von Elchberg fuhren, dachte er, dass anscheinend höhere Mächte verhindern wollten, dass er sich um Lore kümmerte, und schloss seiner Fürbitte für den Verletzten auch eine für Lore an, die es in seinen Augen nicht weniger nötig hatte.
XIV.
Doktor Mützes Vorhersagen zum Trotz erwies Wolfhard von Trettin sich als zäher als erwartet. Zwar lag er in tiefer Bewusstlosigkeit, doch noch immer schlug das Herz, und die Lunge sog rasselnd die Luft ein.
Kord blieb bei ihm, obwohl ihm der Lebenswille, der den ausgemergelten Körper erfüllte, ein wenig unheimlich war. Gelegentlich flößte der Knecht dem Bewusstlosen Wasser ein und wartete ansonsten auf das, was kommen würde.
Die alte Miene, die ebenfalls nicht vergessen hatte, dass der alte Herr sein Gesinde zwar streng, aber gerecht behandelt hatte, brachte dem Knecht von Zeit zu Zeit etwas zu essen. Dann setzte sie sich zu ihm, und sie sprachen über alte Zeiten, in denen das Leben auf Trettin noch schön gewesen war.
»Ich habe immer gesagt, etwas Besseres kommt nicht nach«, seufzte die alte Frau. »Der Herr macht es richtig. Er verlässt diese bucklige Welt, in der die Starken die Schwachen immer mehr drücken und in der Ehre und Wahrhaftigkeit ein rares Gut geworden sind.«
»Es hätte anders kommen können, wenn der Herr selbst einen Sohn gehabt oder Fräulein Leonore einen vornehmen Herrn geheiratet hätte, der Ottokar die Hammelbeine hätte langziehen können!«
Miene sah ihn nachdenklich an. »Der Lehrer war schon der rechte Mann für sie, Kord. Mit ihm hat Fräulein Leonore wenigstens ein schönes Leben geführt. Wen hätte sie denn sonst heiraten sollen? Einen Krautjunker vielleicht, der im Grunde nur eine Hausfrau gesucht hat? Da Trettin Majoratsbesitz ist, wussten doch alle, dass Fräulein Leonore kein großes Erbe erhalten würde. Außerdem – so hört man es wenigstens – hat Ottokar unter seinesgleichen verlauten lassen, sein Onkel werde Fräulein Leonores Heirat mit ihm gutheißen, damit diese Herrin auf Trettin werde. Das mag so manchen abgehalten haben, der sich sonst um das Fräulein beworben hätte.«
»Ottokar war ein Lump, ist einer und wird immer einer bleiben!« In Kords Stimme schwang unterdrückter Groll mit. Er hatte es dem neuen Gutsherrn nicht vergessen, dass er, dessen Wort als Vorarbeiter auf dem Gut etwas gegolten hatte, von diesem wie ein Hund davongejagt worden war, so dass er nun statt des hübschen Häuschens eine heruntergekommene Kate bewohnen musste.
»Ich glaube, der Herr wird wach!«
Mienes erstaunter Ausruf riss Kord herum. Er starrte den alten Freiherrn an und mochte kaum glauben, als dieser das rechte Auge öffnete und ihn mit wachem Blick ansah.
»Ist Doktor Mütze schon gegangen?«, fragte Lores Großvater, so als hätte er nur einen Moment geschlummert.
»Der Herr Doktor war bis jetzt jeden Tag da, seit Sie ohnmächtig geworden sind. Er will auch morgen wieder vorbeikommen«, erklärte der Knecht.
Wolfhard von Trettins Miene zeigte Erstaunen. »Jeden Tag, sagst du? Wie viel Zeit ist denn seit Lores Aufbruch vergangen?«
Kord überlegte, wie lange es her war, als sein Blick auf den Kalender fiel, der auf der anderen Seite des Raumes an der Wand hing. »Heute ist der vierte Dezember«, sagte er.
»Der vierte Dezember?« Wolfhard von Trettin begann zu lachen.
»Der vierte Dezember! Heute ist der Tag, an dem Lore mit dem Schiff in die Neue Welt aufbricht. Damit ist sie Ottokars Klauen endgültig entronnen!« Aus seinen Worten sprachen Triumph und eine tiefe Zufriedenheit, weil er bis zu diesem Tag durchgehalten hatte.
Ein letztes Mal lachte er noch einmal so dröhnend wie in seinen besten Zeiten. Dann verstummte er mit einem Schlag. Sein rechter Arm sank hinab, und als Miene sich über ihn beugte, wusste sie, dass der Lebensweg des Freiherrn Wolfhard Nikolaus von Trettin ein Ende gefunden
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