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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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schmeichelte.
    Kord war froh, als sie Heiligenbeil erreicht hatten und er sich von dem Kutscher verabschieden konnte. Am Doktorhaus öffnete ihm das Dienstmädchen. »Der Herr Doktor ist bei einem Patienten. Du wirst später wiederkommen müssen«, erklärte es hochmütig.
    »Ich muss mit Doktor Mütze sprechen, und zwar dringend!« Kord war nicht bereit, sich abweisen zu lassen, und stellte den Fuß in die Tür, damit das Dienstmädchen sie ihm nicht vor der Nase zuschlagen konnte.
    Unterdessen war Frau Mütze auf ihn aufmerksam geworden. Sie kannte ihn von mehreren Festen auf Gut Trettin, die noch zu Zeiten des alten Herrn stattgefunden hatten, und rief das Mädchen zurück. »Du kannst den Mann einlassen, Senta. Und gieß ihm gleich einen Becher Glühwein ein. Er muss ja bei der Kälte halb erfroren sein. Möchtest du auch etwas zu essen, Kord?«
    Dieser schüttelte den Kopf und sah die Frau des Arztes mit einem traurigen Blick an.
    »Also ist es so weit!« Frau Mütze seufzte, denn ihr hatte der alte Trettin imponiert, und der Gedanke, dass er jetzt in seiner Waldeinsamkeit gestorben war, tat ihr weh.
    »Senta, den Glühwein schenke ich ein. Suche meinen Mann und sage ihm, er soll so schnell wie möglich zurückkommen.«
    Das Dienstmädchen zog eine Schnute, denn bei der Kälte draußen herumzulaufen war nicht gerade nach ihrem Sinn.
    Unterdessen reichte Frau Mütze Kord einen dampfenden Becher, in den sie noch einen Schuss Wacholderschnaps gegeben hatte. »Herr von Trettin lebt also nicht mehr.«
    »Ja, so ist es. Aber er ist noch einmal aufgewacht und ist mit demWissen in den Tod gegangen, dass Fräulein Lore in Sicherheit ist.«
    »Ich hätte Lore gerne bei uns aufgenommen, aber die neuen Herrschaften auf Trettin hätten das nie und nimmer geduldet.« Frau Mütze seufzte, denn sie mochte das Mädchen, das auf eine so traurige Weise Eltern und Geschwister verloren hatte und sich nun auf dem Weg ins Ungewisse befand.
    Zu Kords Erleichterung kehrte kurz darauf der Arzt zurück. Auch der begriff ohne Worte, was geschehen war. Obwohl diese Nachricht jederzeit zu erwarten gewesen war, war Doktor Mütze zutiefst erschüttert. Er klopfte Kord auf die Schulter und atmete ein paarmal tief durch, bevor er zu sprechen begann. »Senta, richte diesem guten Mann hier einen Imbiss und sage dem Kutscher, er soll anspannen. Sobald ich zurück bin, fahren wir los.«
    »Wo willst du denn hin?«, fragte seine Frau.
    »Ich möchte Herrn Fridolin telegraphieren. Er wird sicher aus Berlin kommen, um seinem Oheim die letzte Ehre zu erweisen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass wir ihn hier brauchen. Allein fühle ich mich Ottokar von Trettin und seinem Weibsteufel nicht gewachsen.«
    Mit diesen Worten verließ Doktor Mütze das Haus und eilte zur Telegraphenstation. Während er dem Telegraphisten die Nachricht diktierte, hoffte er, dass Fridolin von Trettin genug Geld besaß, um nach Ostpreußen reisen zu können. Dabei musste er unwillkürlich an Lore denken, die nun vollends zur Waise geworden war.

DRITTER TEIL
Tod in der
Themsemündung

I.
     
    Lore zog den Kopf ein, als ihr Großvater sie zornig anfunkelte. »Du fährst nach Amerika, und Elsie wird dich begleiten!«, rief er und drohte ihr mit dem Stock.
    »Aber ich …«, begann Lore und fand sich auf einmal mitten in einem Schneesturm wieder. Nicht weit von sich entfernt, sah sie Elsie.
    »Komm, wir müssen an Bord!«, rief sie ihr zu und versuchte, das trödelnde Dienstmädchen anzutreiben. Elsie lachte sie jedoch nur aus. In dem Moment tauchte Gustav auf, packte die große Seekiste und hob sie auf einen Karren. Bevor Lore auch nur ein Wort sagen konnte, waren die beiden verschwunden, und sie blieb allein an Deck eines Schiffes zurück, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war.
    Dieses Schiff war jedoch nicht die
Deutschland
, sondern ein Seelenverkäufer, kaum größer als das Haffboot, das sie vor einigen Jahren gesehen hatte, und mit einer Dampfmaschine, für die kein Holz mehr an Bord war. Gleichzeitig brauste eine schwarze Sturmfront heran, und Lore hörte den entsetzten Schrei: »Rette sich, wer kann!« Dann sank das Schiff ganz plötzlich, und die Wellen schlugen über ihr zusammen.
    Gerade als sie glaubte, ertrinken zu müssen, hörte sie ein heftiges Klopfen und schreckte hoch. Voller Erleichterung erkannte sie, dass sie nicht vom Wasser verschlungen worden war, sondern in ihrer kleinen Kabine auf der
Deutschland
lag. Mit wunden, verklebten Augen starrte sie in

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