Dezembersturm
heulen.
»Ich spiele gerne mit dir, aber ich habe noch nicht gefrühstückt«, wandte sie ein.
»Das macht nichts. Ich komme mit und sage dir, was du bestellen musst. Kennst du den Weg? Nein? Dann führe ich dich hin. Du musst ein Deck tiefer steigen. Die Salons liegen direkt übereinander im Heck. Übrigens: Du darfst Nati zu mir sagen, denn wir sind doch jetzt Freundinnen!«
»Das will ich gerne tun! Sagtest du nicht gestern, dass du schon oft mit einem Dampfer gefahren bist? Das merkt man daran, wie gut du dich auskennst.« Lore bedauerte ihre Bemerkung sofort, denn die altkluge Kleine erklärte ihr auf dem Weg zum Speisesaal und während des Frühstücks haarklein, auf welchen Schiffen sie mitgefahren war.
»Meine Eltern sind bei einem Schiffsunglück gestorben«, setzte sie ganz unvermittelt hinzu, schniefte und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. »Ich bin damals gerettet worden. Aber da war ich gerade erst vier Jahre alt und kann mich nicht mehr richtig erinnern.«
Die Beschreibung, die sie von der Havarie gab, konnte nicht von ihr selbst stammen. Wahrscheinlich hatte sie sie von Erwachsenen vernommen, denn ihre Wortwahl passte nicht zu ihrem Alter.
»Hast du denn keine Angst, dass auch dieses Schiff untergehenkönnte?«, fragte Lore, der immer noch Elsies Schauergeschichten durch den Kopf spukten.
Nati schüttelte heftig den Kopf. »Deutsche Schiffe gehen nicht unter. Das tun nur solche aus England oder Amerika. Meine Eltern sind auch auf einem englischen Schiff gewesen, als sie zu den Fischen gehen mussten. Das hier ist ein deutsches Schiff aus Bremerhaven, und mein Großvater sagt, die NDL-Schiffe sind die sichersten der Welt! Uns kann überhaupt nichts passieren.«
Das klang so überzeugt, dass Lore zum ersten Mal seit vielen Tagen herzhaft lachen musste. Dabei fiel ihr Blick auf eine Nische, in der sich gerade eine gutgekleidete Dame von mehreren in schwarze Kutten gehüllten Gestalten verabschiedete. Das mussten die Franziskanerinnen sein.
Als die Nonnen sich kurz darauf erhoben, konnte Lore ihre Gesichter erkennen. Alle fünf wirkten noch sehr jung, und das nahm ihr etwas von ihrer Scheu. Immerhin war sie erst seit kurzem Katholikin und wusste noch immer nicht so recht, wie sie sich ihrer neuen Konfession gegenüber stellen sollte. Trotzdem wollte sie aufstehen und die frommen Schwestern ansprechen, doch Nathalia, die bemerkt hatte, dass Lores Aufmerksamkeit nicht mehr ihr galt, krallte ihr die Finger in den Arm.
»Wir sollten jetzt nach oben gehen und spielen. Du hast es mir versprochen!«
Lore verschob die Begegnung mit den Nonnen seufzend auf später und wandte sich wieder dem puppenhaften Plagegeist zu. »Lass mich nur noch zu Ende frühstücken.«
II.
Kaum hatte Lore den letzten Bissen gegessen, schleppte Nathalia sie unbarmherzig die Treppen hinauf zum Salon erster Kajüte. Auf dem Weg dorthin begegneten sie einem jungen Mann mit modischem Backenbart und eleganter Kleidung. Sein Blick streifte Lore verächtlich und blieb dann auf Nati haften. »Wen schleppst du denn da an, Base? Du weißt doch, dass das Gesindel aus dem Zwischendeck hier oben nichts zu suchen hat. Also schick das schmutzige Ding gefälligst dorthin zurück, wo du es hergeholt hast!«
Lore war so schockiert über die bösartige Bemerkung, dass es ihr die Sprache verschlug. Doch als sie ihre Finger aus Nathalias kleiner Faust lösen wollte, um fluchtartig zu verschwinden, umklammerte das Mädchen ihre Hand und fauchte den jungen Mann böse an.
»Du bist ja so dumm, Vetter Ruppert! Lore ist nicht schmutzig. Sie riecht sogar viel besser als du. Außerdem ist sie meine Freundin und meine neue Gesellschafterin. Ich nehme sie mit, wohin ich will! Großvater sagt, du hast mir gar nichts vorzuschreiben. Du gehörst nicht einmal richtig zu unserer Familie, denn deine Mutter war keine Dame von Stand! Also geh mir aus dem Weg, bevor ich einen Lakaien rufe, damit er dich zur Tür hinauswirft!«
Die giftigen Worte passten so gar nicht zu dem engelhaften Mädchen. Lore war im ersten Augenblick erschrocken, bemerkte dann aber den Blick, mit dem der Mann Nathalia streifte. So viel Hass und Wut hatte sie noch selten auf dem Gesicht eines Menschen gesehen. Dahinter musste mehr stecken als nur ein paar unartige Worte. Sie kannte die Hintergründe nicht, aber eines war ihr klar: Diesem Mann durfte sie niemals allein oder gar im Dunkeln begegnen, und Nati sollte es am besten auch nicht tun. So viel Angstwie vor diesem
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