Dezembersturm
Fremden hatte sie selbst vor Ottokar von Trettin nicht empfunden.
Nathalia schien in ihrer kindhaften Unbekümmertheit nichts von den Gefühlen ihres Vetters wahrzunehmen, denn sie ging mit hocherhobenem Kopf an ihm vorbei, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, und zog Lore mit sich. Als ein Steward Lore am Eingang des oberen Salons erster Kajüte den Weg versperren wollte, stellte das Kind sich vor sie und sah kämpferisch zu dem Mann auf. »Was soll das? Lore ist meine neue Gesellschafterin. Also geh aus dem Weg!«
An Mut scheint es der Kleinen wahrlich nicht zu mangeln, dachte Lore anerkennend, nur nahm sie sich für ihr Alter etwas zu viel heraus.
Der Steward wich so rasch beiseite, dass er beinahe mit einem anderen Passagier zusammenstieß, und wandte sich etwas höflicher an Lore. »Sind Sie nicht die Passagierin aus der zweiten Klasse, die von ihrer Zofe bestohlen worden ist?«
Als diese unglücklich nickte, atmete der Steward auf. »Diese Lösung ist wunderbar! Kapitän Brickenstein wird damit sehr zufrieden sein. Bis New York können Sie Ihre Kabine behalten, und danach kümmert sich sicher Graf Retzmann um Sie! Er wird froh sein, dass sich jemand seiner Enkelin annimmt. Unsere kleine Komtess ist nämlich manchmal recht eigenwillig.«
Er unterbrach sich, dachte einen Moment nach und sah Lore forschend an. »Haben Sie bereits mit dem Herrn Grafen gesprochen? Er ist sehr anspruchsvoll und will nur zuverlässige Leute um sich haben.«
»Ich bin auf dem Weg zu ihm«, versicherte Lore nicht ganz wahrheitsgemäß, denn sie wollte Nathalia nicht als Lügnerin bloßstellen. Innerlich seufzte sie jedoch, denn sie sah Verwicklungen auf sich zukommen, die sie in ihrer Lage ganz sicher nicht brauchen konnte.
Die kleine Komtess beachtete den Steward nicht weiter, sondern redete munter auf Lore ein. »Weißt du, der Mann, der vorhin so garstig zu dir war, ist Ruppert, der Sohn des ältesten Sohnes meines Großvaters. Onkel Robert ist tot. Es heißt, er sei bei einem Streit in einem der schlimmen Häuser erschossen worden, über die man als Dame nicht sprechen darf. Großvater hatte ihn schon vorher verstoßen, weil er eine Dame geheiratet hatte, die keine war. Sag mal, Lore, verstehst du das? Wie kann man eine Dame sein und dann doch nicht als solche gelten? Sie soll aus einem dieser bösen Häuser stammen, in die ein Graf eigentlich nicht hineingehen darf.«
Nathalia redete, ohne auch nur einmal eine Antwort abzuwarten, und erzählte auf ihre kindlich naive Art die Geschichte ihrer Familie, die nur aus Hader, Streit und schrecklichen Unglücken zu bestehen schien, bis nur noch ihr Großvater und sie übrig geblieben waren.
Währenddessen machte sie es sich mit Lore zusammen in dem prächtigen Salon erster Kajüte bequem, gegen den der gewiss nicht bescheiden eingerichtete Salon zweiter Kajüte sich wie das Wohnzimmer eines gewöhnlichen Bürgerhauses ausnahm.
Das Kind nahm Lores Aufmerksamkeit ganz für sich in Anspruch und ließ sie so für eine Weile ihren Kummer und die nagende Angst vor der Zukunft vergessen. Dann unterbrach eine harsche, befehlsgewohnte Stimme die traute Zweisamkeit. »Nathalia! Willst du mir deine neue Gesellschafterin nicht vorstellen?«
Während Nathalia trotzig die Unterlippe vorschob, sprang Lore erschrocken auf und sah einen grimmigen Mann vor sich, der trotz seiner schwarzen Kleidung und den weißen Haaren nicht so alt wirkte, wie Natis Erzählungen sie hatten vermuten lassen. Sie machte einen Knicks, wie ihr Großvater es ihr beigebracht hatte. »Ihre Enkelin hat mich gebeten, ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten, Herr Graf. Ich bin Passagierin der zweiten Kajüte, heißeLore Huppach und stamme aus Trettin. Das liegt im Landkreis Heiligenbeil in Ostpreußen.«
Graf Retzmann brummte etwas, das Lore nicht verstand. Ihr kam es jedoch sehr herablassend vor, und so straffte sie ihre Schultern und sah dem hochgewachsenen Mann geradewegs ins Gesicht. »Ich bin die Enkelin des Freiherrn von Trettin auf Trettin. Meine Mutter hat einen preußischen Beamten ohne Titel geheiratet.«
Graf Retzmann begann zu lachen. »Schon gut, junge Dame! Sie brauchen nicht beleidigt zu sein. Ich habe nichts gegen Bürgerliche und auch nichts gegen Damen aus Ostpreußen. Ich finde nur, dass Sie für eine Gesellschafterin noch reichlich jung sind!«
»Ich bin ja auch keine richtige Gesellschafterin, sondern vertreibe Nathalia nur ein wenig die Langeweile, weil sie ebenso allein ist wie ich. Der Steward
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