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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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auch zurückgeschreckt, denn in allen düsteren Winkeln hatten sich schon andere, unangenehme Zeitgenossen breitgemacht – die Schiffsratten, die aus den unteren Decks heraufkamen und pfeifend nach neuen Verstecken suchten. Da Lore sich wegen Graf Retzmanns Befehl nicht mit Nati in die Kabine zurückziehen durfte, wanderte sie mit dem Kind an der Hand oder auf dem Arm ziellos auf dem wieder trockenen Hauptdeck umher, bis der Gong vor der Bordküche sie zu Tisch rief.
    Das verspätete Mittagessen verlief erstaunlich alltäglich, wenn man davon absah, dass die Passagiere aller drei Klassen und die abkömmlichen Matrosen einträchtig zusammensaßen und die meisten Esstische mit Kisten und auf dem Boden ausgebreiteten Decken improvisiert worden waren. Da sich die Kombüse auf dem Hauptdeck befand, gab es sogar eine warme Suppe.
    Noch ehe der letzte Teller verteilt war, schrie von draußen jemand herein: »Da kommt wieder ein Schiff! Ein Dampfer!«
    Wäre die
Deutschland
in diesem Augenblick unter den Füßen der Menschen auseinandergebrochen, das Chaos hätte kaum größer sein können. Die meisten ließen alles stehen und liegen und liefen an Deck. Im Nu waren die Treppen von ungeduldigen Passagieren und brüllenden Matrosen verstopft, die auf ihre Positionen gerufen worden waren, und der Kapitän und die Offiziere hatten alle Hände voll zu tun, um wieder Ordnung zu schaffen.
    Schließlich stand auch Lore mit vielen anderen an der Reling und starrte auf die schwarze Silhouette eines Dampfers, der an seinen beiden Masten Sturmbesegelung aufgezogen hatte und eine dünne Rauchfahne ausstieß, die vom Wind sofort zerrissen wurde.
    Im dichter werdenden Schneetreiben schob sich der Rumpf des Schiffes quälend langsam über die Kimm, und bald war abzusehen, dass er ebenso gemächlich wieder dahinter verschwindenwürde. Einige Matrosen und Passagiere feuerten Pistolen ab, doch gegen das Brüllen der entfesselten Elemente klangen ihre Notsignale so dünn, dass sie kaum von einem Ende der
Deutschland
bis zum anderen zu hören waren. Dann trieben die wild anrollenden, sich am Schiffsrumpf brechenden Wellen die Passagiere wieder zurück in den Salon. Mit der aufkommenden Flut begann das Wasser wieder zu steigen, und die Aussicht auf Rettung sank.
    Gerade als Lore sich anschickte, wieder in die spärliche Wärme und die zweifelhafte Sicherheit des Hauptdecks zurückzukehren, überschüttete eine besonders heftige Woge das obere Deck mit Wasser und Gischt. Instinktiv klammerte sie sich an einer Ecke des Pavillons fest, um nicht mit dem Kind auf dem Arm umgerissen zu werden. Dabei sah sie aus den Augenwinkeln, wie jemand mit einem Ruck nach vorne stolperte, das Gleichgewicht verlor und von dem ablaufenden Wasser unbarmherzig auf eine Lücke in der Reling zugetrieben wurde. Lore erkannte Nathalias Großvater und schrie gellend auf.
    Ein Matrose drehte sich um, sah, was passierte, und war mit einem Satz bei dem alten Herrn. Er packte ihn im allerletzten Moment und zerrte ihn aus dem Sog der Welle heraus. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass sie beide gegen das Deckhaus geschleudert wurden.
    Lore war unwillkürlich zurückgewichen, um nicht selbst von der Welle mitgerissen zu werden. Dabei bemerkte sie, dass Ruppert von Retzmann nicht weit von ihr entfernt über eine halbaufgelöste Taurolle stolperte und sich hastig zur anderen Schiffsseite entfernte. Dort drehte er sich um, und sie sah in ein von Hass und Wut entstelltes Gesicht, auf dem sich nun ein Ausdruck von Enttäuschung breitmachte. In dem Augenblick hätte sie ihre eigene Seligkeit verwettet, dass Nathalias Großvater nicht ohne Zutun gestürzt war. Ruppert musste ihn auf die gefährliche Stelle zugeschubst haben.
    Doch als Lore sich dem alten Grafen zuwandte und ihn fragte, ob sie ihm helfen könne, bog Ruppert um die Deckaufbauten und beugte sich scheinbar besorgt über seinen Großvater. Zum Glück waren weder der alte Graf noch der Matrose ernsthaft verletzt. Durch die wasserdichte Ölkleidung, die sie beide trugen, waren sie noch nicht einmal sonderlich nass geworden, was bei dieser Kälte äußerst unangenehm hätte werden können.
    Da der alte Graf seinen Enkel mit herablassender Höflichkeit behandelte und ihn wegschickte, ohne ein Wort über den Zwischenfall zu verlieren, nahm Lore an, sie habe sich getäuscht. Dennoch zweifelte sie daran, dass die Welle stark genug gewesen war, einen kräftigen Mann umzureißen, und blickte vorsichtig über die Schulter.

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