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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Nicht weit hinter ihr stand Ruppert, die Rechte zur Faust geballt, und musterte sie so finster, dass sie unwillkürlich schauderte.
    Rasch wandte sie Natis Vetter den Rücken zu und begleitete den alten Herrn nach unten. Dort half sie ihm anstelle seines fahrigen Dieners, die nassen Stiefel und Socken auszuziehen. Gleichzeitig musste sie Nathalia trösten, der bei dem Sturz ihres Großvaters der Schreck so in die Glieder gefahren war, dass sie sich nicht beruhigen wollte. Dabei nahm sie wahr, wie der alte Graf nachdenklich zu Ruppert hinübersah, der eben seinem Diener den nassen Mantel reichte und dem Lore auf Anhieb unsympathischen Lakaien in barschem Ton Anweisungen erteilte.
    Für einen Augenblick trafen sich die Blicke der beiden Herren von Retzmann, und Lore wurde klar, wie sehr die Männer einander verabscheuten. Ruppert winkte schließlich mit einer verächtlichen Bewegung ab und ließ sich von seinem Diener eine seiner großen Zigarren anzünden. Dann schlenderte er mit hochmütiger Miene zwischen den am Boden kauernden Zwischendeckpassagieren hindurch und verschwand aus dem Salon.
    Nachdem Ruppert gegangen war, wagte Lore es, Graf Retzmannzu fragen, ob er oben an Deck über eine Taurolle oder einen Poller gestolpert wäre oder wieso er an dieser gefährlichen Stelle den Halt verloren habe.
    Der Kopf des alten Mannes ruckte hoch, und er starrte Lore durchdringend an. »Warum fragen Sie mich das, Fräulein? Haben Sie genau beobachtet, was passiert ist?«
    »Nein, Herr Graf, ich habe nur gesehen, wie Sie auf die Öffnung zugetrieben worden sind«, antwortete sie verlegen. »Allerdings kam es mir eigenartig vor. Dort war nämlich nichts, über das Sie hätten stolpern können.«
    Der alte Mann seufzte. »Sie sollten sich darüber keine Gedanken machen, mein Kind. Es ist ja noch einmal gutgegangen. Alte Leute wie ich stehen nun einmal nicht mehr ganz so fest auf den Beinen. Übrigens – ich habe Ihren Schrei gehört und denke, Sie haben damit entscheidend zu meiner Rettung beigetragen. Dafür und für das, was Sie für meine kleine Enkelin tun, danke ich Ihnen von ganzem Herzen. Versprechen Sie mir aber eines: Halten Sie sich von Nathalias Vetter fern und bleiben Sie immer in Sichtweite anderer Passagiere und der Besatzungsmitglieder. Vor allem aber meiden Sie alle dunklen und einsamen Orte an Bord dieses Wracks und passen Sie auch später gut auf sich und Nati auf. Ich fürchte, Sie haben sich dadurch, dass Sie sich um meinen kleinen Engel kümmern, einen gefährlichen und unberechenbaren Feind geschaffen. Trotzdem bitte ich Sie, Nathalia keine Sekunde aus den Augen zu lassen, bis wir wieder sicheren Boden unter den Füßen haben. Ich fürchte, es könnte ihr sonst in dem Durcheinander, das hier herrscht, ein Unglück zustoßen.«
    Lore versicherte dem Grafen, dass sie Nati hüten würde wie ihr eigenes Leben. Es klang in ihren Ohren furchtbar pathetisch und gestelzt, doch der alte Herr nickte beifällig.
    »Ich hoffe, ich kann es Ihnen vergelten. Sollte ich nicht gerettet werden, müssen Sie sich an meinen Freund und GeschäftspartnerThomas Simmern in Bremen wenden. Ich habe ihn schon vorsorglich zu meinem Testamentsvollstrecker und zu Nathalias Vormund ernannt. Er wird wissen, was zu tun ist. Sie können ihn über die Niederlassung des Norddeutschen Lloyd in London erreichen. Ich bin Gesellschafter der Firma, und daher wird man dort für meine Enkelin und deren Betreuerin alles tun, um euch sicher nach Hause zu bringen. Bitte verlassen Sie meine Kleine nicht, bevor sie bei meinem Freund in Obhut ist. Ich habe hier ein Bündel Papiere, das ich Ihnen in Verwahrung geben will, und ich werde noch einen Brief mit Anweisungen für Ihre Zukunft schreiben und ihn dazulegen. Hat dieser seltsame Mantel, den Sie tragen, auch Innentaschen? Dann können Sie das Päckchen und das Reisegeld, das ich Ihnen gebe, sicher unterbringen.«
    Der alte Mann schwieg für einen Augenblick und krallte die Finger seiner Rechten so fest in Lores Schulter, dass es trotz des dicken Schiffermantels weh tat.
    »Eines ist ganz wichtig«, fuhr er eindringlich fort. »Lassen Sie sich auf keinen Fall mit Ruppert ein! Er darf auch von diesen Papieren nichts erfahren. Trauen Sie ihm nicht und hüten Sie sich, ihm Nathalia auszuliefern! Schwören Sie mir, dass Sie alles tun werden, um ihm aus dem Weg zu gehen, bis ihr bei Thomas Simmern in Bremen und damit in Sicherheit seid! Ruppert wird möglicherweise versuchen, sich als Nathalias Vormund

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