Dezembersturm
sagte: »Ihr dürft euch hier nicht verstecken. Geht, schließt euch den anderen Fahrgästen an! Sonst kann es passieren, dass ihr nicht mehr rechtzeitig zu den Flößen kommt, wenn das Schiff geräumt werden muss. Das Wasser im Rumpf steigt beständig, und die männlichen Passagiere müssen sich bereits mit den Matrosen an den Handpumpen abwechseln, um den Rumpf so lange wie möglich über Wasser zu halten. Daher kann ich mich nicht um euch beide kümmern, wie ich es gerne täte. Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe, Fräulein?«
Lore nickte bedrückt. »Ja, Herr Graf. Nathalia und ich werden uns in den Salon setzen, damit wir nicht übersehen werden.«
»Sehr gut! Wenn wir hier heil herauskommen, werde ich mich erkenntlich zeigen, das verspreche ich Ihnen. Bis dahin aber vertraue ich Ihnen das Leben meiner Enkelin an. Lassen Sie sie keinen Augenblick aus den Augen!«
»Ja, Herr Graf«, antwortete Lore. Sie hatte ohnehin nicht vor, sichvon Nati zu trennen. Die Sorge um das verängstigte Kind lenkte sie von ihrer eigenen Angst ab, die ihr wie ein großes, schwarzes Ungeheuer im Nacken hockte.
Graf Retzmann schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er klopfte ihr dankbar auf die Schulter. »Sie brauchen nicht in Panik zu geraten, Fräulein. Wir sind nicht an irgendeiner wilden Küste, sondern unweit der Hauptfahrrinne mitten in der Themsemündung gestrandet. Hier herrscht dichter Verkehr. Sobald es hell wird, werden wir von dem nächsten Schiff, das uns sieht, gerettet.«
Die ruhige, beherrschte Art des Grafen flößte Lore Zuversicht ein, und so kehrte sie mit Nati in den Salon zurück. In den nächsten Stunden wünschte Lore sich jedoch, sie hätte dem Grafen nicht versprochen, bei den anderen Passagieren zu bleiben. Wie sollte sie ihre Nerven behalten, wenn selbst erwachsene Männer die Fassung verloren und vor Angst zitterten und greinten?
Auch schien so schnell nichts aus der erhofften Rettung zu werden, denn die Nacht wollte und wollte nicht weichen. Durch die Oberlichten konnte man sehen, dass schwere Wolken mit dem Sturm über den Himmel jagten, und immer wieder nahm das Schneetreiben allen, die Ausschau hielten, die Sicht.
VII.
Am späten Vormittag endlich schien das Schlimmste überstanden zu sein. Die Flut hatte ihren Höhepunkt überschritten, und das Wasser sank. Auch der Sturm hatte etwas nachgelassen. Inzwischen war es den Matrosen gelungen, eine Dampfpumpe zum Laufen zu bringen, und sie brachten damit das Wasser fast ebensoschnell wieder aus dem Rumpf, wie es nachströmte. Daher konnten die Männer an den Handpumpen ein wenig Atem schöpfen.
Auch die Sicht wurde besser, und selbst die Passagiere im unteren Salon, der wieder betretbar war, konnten die Kanonenschüsse hören, die das Feuerschiff von Kentish Knock in regelmäßigen Abständen abfeuerte. Dort hatte man die Havarie des NDLDampfers
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offensichtlich bemerkt.
»Es wird nicht mehr lange dauern, dann kommt Hilfe!«, sagte einer der Stewards, um die verängstigten Passagiere zu beruhigen. Dennoch befahl der Kapitän sicherheitshalber, die Ladung über Bord zu werfen, um den Schiffsrumpf zu entlasten, und überdies alle Lebensmittelvorräte auf das Hauptdeck und ins Ruderhaus zu bringen.
Mit einem Mal lockten laute Jubelrufe die Passagiere auf das Deck, das nun, da Ebbe eingesetzt hatte, nicht mehr von Brechern überspült wurde. Auch Lore eilte mit Nati nach draußen. Einer der Matrosen zeigte auf einen großen Viermaster in der Ferne. Sein Rumpf lag noch unter der Kimm, und so konnte man nur die knappe Sturmbesegelung erkennen, die über den Wellen zu tanzen schien. Da die bordeigene Signalkanone in der allgegenwärtigen Nässe nicht mehr zu zünden war, ließ Kapitän Brickenstein Pistolen abfeuern, um den Segler auf die
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aufmerksam zu machen.
Das Schiff kam näher – und zog vorbei, ohne seinen Kurs zu ändern. Die Menschen an der Reling sahen ihm teils stumm, teils schimpfend und jammernd nach. Mehr als eine Faust fuhr in die Luft, und der Sturm riss etliche böse Wünsche für den Klipperkapitän von den Lippen.
Lore versicherte ihrem jammernden Schützling, dass die Leute von dem Segelschiff im nächsten Hafen Bescheid geben und daher bald Retter erscheinen würden. Daran versuchte sie selbst eben falls zu glauben, doch als der Mittag nahte und der Sturmerneut zu toben begann, brauchte sie ihre ganze Kraft, um sich nicht in der dunkelsten Ecke zu verkriechen, die sie finden konnte. Sie wäre
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