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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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aufzuspielen. Dann zeigen Sie den Behörden meinen Brief und verlangen nach unserem NDL-Repräsentanten.«
    »Das werde ich tun!«, versicherte Lore. Um der Situation die kaum noch erträgliche Spannung zu nehmen, versuchte sie zu lächeln und fragte: »Wie viele der Zehn Gebote hat Natis Vetter denn schon gebrochen?«
    Graf Retzmann biss sich auf die Lippen. »Ich fürchte, er hat kein einziges ausgelassen! Nein, ganz ehrlich, mein Fräulein, ich weiß es nicht. Ich wollte mich bei unserem Aufenthalt in London mitThomas Simmern treffen, um eben das herauszufinden, damit ich nach meiner Rückkehr aus Amerika die entsprechenden Schritte einleiten kann. Die Andeutungen in den Briefen meines Freundes lassen mich das Schlimmste befürchten. Aber wahrscheinlich sehe ich zu schwarz. Ich will Ihnen keine unnötige Angst machen, aber Sie sollten …«
    Es folgten noch eine Reihe von eindringlichen Ermahnungen mit allerlei Einzelheiten, die Lore sich gehorsam zu merken versuchte. Hinter ihrer Stirn aber rasten die Gedanken. Wie es aussah, hatte sie sich den Mordversuch doch nicht eingebildet. Beinahe wäre es Ruppert gelungen, seinen Großvater umzubringen und es wie ein Unglück aussehen zu lassen. Der alte Herr wusste das. Aber warum schwieg er? Warum klagte er ihn nicht an und ließ ihn von Kapitän Brickenstein festnehmen? Dazu hatte dieser, wie sie gehört hatte, durchaus das Recht. Wollte er den danach unvermeidlichen Skandal verhindern? Das wäre bei einem Mann aus seinen Kreisen durchaus denkbar. Oder glaubte der alte Herr nicht mehr an seine Rettung? Seine Worte hatten wie ein Testament geklungen. Doch wenn dies so war, hatte er sich in ihr eine armselige Vollstreckerin ausgesucht.
    Lore hätte gerne die Antwort gewusst, doch sie wagte es nicht, ihn zu fragen. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie panische Angst vor Unglücksfällen. Doch nun war sie selbst Teil einer Katastrophe und fand sich zudem in einer jener Mordgeschichten wieder, die Elsie in vergilbten Gazetten und Monatsblättern gelesen und ihr erzählt hatte. Das Ganze erschien ihr so unwirklich, dass sie sich fragte, ob sie noch zu Hause im Lehrerhaus in ihrem Bett lag und das alles nur träumte.
    Sie schüttelte energisch den Kopf. Das untergehende Schiff und die fluchenden, jammernden und betenden Menschen in dem nur noch spärlich beleuchteten Salon stellten die Wirklichkeit dar, der sie sich eben durch ihre Phantasie zu entziehen versucht hatte.Auch war Nati keine Porzellanpuppe, die sie herumschleppte, um sich damit zu trösten, sondern ein zu Tode geängstigtes Menschenkind, für das sie eine Verantwortung übernommen hatte, die ihr nun wie ein Mühlstein am Hals hing.
    Dabei war sie doch selbst fast noch ein Kind, das viel zu früh die Eltern verloren hatte und seit jenem Tag so tun musste, als sei es bereits erwachsen. Wie konnte sie Nati trösten, wenn sie selbst Trost benötigte? So wie das Meer um das Schiff tobte, würden sie beide bald tot sein, und dann spielte es keine Rolle mehr, ob es einen Ruppert von Retzmann gab oder nicht.

VIII.
     
    Die Dampfpumpe war schon vor geraumer Zeit ausgefallen. Daher drang das Wasser mit steigender Flut immer schneller in den Rumpf, und es war immer noch keine Rettung in Sicht. Passagiere, die bis nach Einbruch der Dämmerung draußen an Deck ausgeharrt hatten, um nach Hilfe Ausschau zu halten, kamen verfroren und entmutigt herunter. Das Vorschiff, so sagten sie, versinke bereits in den Wellen, und auch das Hauptdeck stehe schon zum Teil unter Wasser.
    Zum Glück lag das Heck des Dampfers ein ganzes Stück höher, und so boten der Salon der ersten Kajüte und die an ihn angrenzenden Kabinen noch eine trockene Zuflucht.
    Zuerst lagerten die Passagiere aller drei Klassen dicht an dicht nebeneinander auf den Sofas, am Boden und teilweise auch schon auf den Tischen. Die Kisten, die als Behelfstische gedient hatten, wurden auf Befehl des Kapitäns samt den in ihnen enthaltenen Vorräten in das Ruderhaus geschafft. Dennoch wurde der Platzimmer knapper. Die Flut drang unaufhörlich herein, und das Schiffächzte und stöhnte unter den Schlägen der entfesselten Elemente. Das Kreischen des gequälten Eisens übertönte das Jammern und Schreien der Frauen und Kinder und auch die Gebete, mit denen die fünf jungen Nonnen gegen die Angst der Passagiere und ihre eigene anzukämpfen suchten. Gott schien jedoch weit weg zu sein, denn Wind und Wasser rasten um das Schiff, als hätte sich die Hölle aufgetan, um es zu

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