Dhalgren
war ein Unfall! Es war ein schrecklicher Unfall!< , und Madame Brown sagte nur: >Oh, Herr!< ein paarmal. Und Mr. Richards sagte überhaupt nichts. Er blickte nur immer zwischen June und Mrs. Richards hin und her, als begriffe er nicht ganz, was sie sagten, was sie getan hatten, was geschehen war, bis June zu weinen anfing und aus dem Zimmer stürzte -«
»Das hört sich schrecklich an«, sagte sie. »Aber versuch, an etwas anderes zu denken.«
»Tu ich.« Er blickte wieder zu den Laternen. Jetzt sah er nur noch eine. War die andere ausgegangen? Oder hatte sich ein Zweig, vom Wind verschoben, wieder davorgelegt? »Was George und du gestern gesagt habt - daß jeder vor weiblicher Sexualität Angst hat, und versucht, es rachsüchtig mit Tod und Zerstörung zu verbinden. Ich meine, ich weiß nicht, was Mr. Richards tun würde, wenn er herausbekäme, sein Sonnenschein läuft wie eine heiße Hündin auf der Straße herum und lechzt danach, von einem geilen sadistischen Niggerbock vergewaltigt zu werden. Also, ein Kind hat er schon mit Morddrohungen aus dem Haus getrieben -«
»Oh, Kidd, nein . . .«
»- und die Laute, die aus dieser Wohnung herausdringen, wenn sie glauben, niemand hört zu, sind genauso komisch wie die aus der Wohnung von Dreizehn. Vielleicht hat sie guten Grund, daß ihr Alter es nicht erfährt. Und als Bobby gedroht hat, so in dieser gemeinen Art wie es jüngere Brüder tun, ihren Eltern das Poster zu zeigen, vielleicht hat sie nur für einen Sekundenbruchteil, als sie ihn durch den Flur schob und die Tür aufglitt, mit einer Art unbewußtem Impuls gefühlt, es sei leichter, ihn zu schubsen - oder nicht einmal das, sondern ihm einfach nichts zu sagen, als er in die falsche Kabine trat —«
»Kidd«, sagte Lanya, »hör auf!«
»Es wäre genau wie der Mythos: Ihre Lust auf George, Tod und Vernichtung! Nur - wenn es ein Unfall war!« Er holte Luft. »Davor habe ich Angst. Stell' dir vor, es war, wie sie sagte, nur ein Unfall. Sie hat es nicht gesehen. Bobby ging einfach durch die falsche Tür. Das schreckt mich. Davor habe ich am meisten Angst.«
»Warum?« fragte Lanya.
»Weil . . .« Er atmete, fühlte, wie sich ihr Kopf auf seiner Schulter bewegte, wie ihre Hand seine auf der Brust hin und herbewegte. »Weil das bedeutet: Die Stadt ist schuld. Das bedeutet: Es ist die Umwelt, die Ziegel, die Tragbalken, die kaputten Kabel und das Fahrstuhlsystem. Alles wirkt zusammen und macht aus diesem Mythos Wahrheit. Und das ist verrückt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte ihr das Poster nicht geben sollen. Wirklich nicht. Ich hätte es nicht tun sollen -« Er hörte auf, mit dem Kopf zu schütteln. »Das Arschloch hat mir immer noch nicht das Geld gegeben. Ich wollte heute abend mit ihm reden. Aber ich konnte es dann nicht.«
»Nein, es war wohl nicht der günstigste Augenblick, um über Geld zu reden.«
»Ich wollte einfach nur da raus.«
Sie nickte.
»Ich will nicht das Geld, wirklich nicht.«
»Gut.« Sie kuschelte sich an ihn. »Dann vergiß das Ganze. Geh nicht mehr zurück. Laß sie in Frieden. Wenn Leute mit Mythen leben, die du nicht magst, laß sie in Ruhe.«
Er hob seine Hand vors Gesicht, die Handfläche nach oben, bewegte die Finger, beobachtete sie: schwarz gegen vierfünftelschwarz. Sein Armmuskel wurde lahm, als er die Knöchel auf die Stirn fallen ließ. »Ich hatte solche Angst . . . Als ich wach wurde, hatte ich solche Angst!«
»Es war nur ein Traum«, beharrte sie. Und dann: »Also, wenn es wirklich ein Unfall war, dann hatte das Poster nichts damit zu tun. Und wenn sie es extra getan hat, dann ist sie so durchgedreht, daß du dir keinen Vorwurf zu machen brauchst.«
»Ich weiß«, sagte er. »Aber glaubst du . . .« Er konnte die Stelle an seinem Hals fühlen, die ihr Atem warm streifte. »Glaubst du, eine Stadt kann beeinflussen, wie die Leute in ihr leben? Ich meine rein geographisch gesehen: so wie die Straßen angelegt sind, wie die Häuser stehen?«
»Natürlich«, entgegnete sie. »San Francisco und Rom sind beide auf Hügeln gebaut. Ich habe in beiden gelebt, und ich bin sicher, was man an Energie aufbringen muß, um von einem Ort zum andern zu gelangen, hat mehr mit der Lebensweise zu tun, als wer nun zufällig gerade Bürgermeister ist. Durch New York und Istanbul fließt ein breiter Wasserstreifen, und selbst, wenn man ihn nicht sieht, fühlt man sich doch in den Straßen irgendwie ähnlich, ähnlicher jedenfalls, als man sich in Paris oder München
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