Dhalgren
Abend. Ich versuchte, es zu riechen, aber meine Nase war taub oder daran gewöhnt. Die Löwen starrten in den Nebel. Wir näherten uns der verwischten Perle einer brennenden Laterne, und ihr Gesicht verzog sich. Sie blieb stehen, türkis vom Saum bis zu den Knien, und es explodierte hinauf bis zur scharlachroten Taille. »Sollten wir . . .? Oh, Kid, weißt du, was sie gesagt haben?«
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Wachte heute morgen im dunklen Hochbett auf. Hörte eine Handvoll Autos, bevor ich mich zum Fenster rollte und das Rollo wegzog. Sonnenlicht warf einen Fächer auf die Decken. Ich kletterte den Leiterpfosten hinab, zog mich an und ging hinaus. Die Luft war so kühl, daß man den Atem sehen konnte. Der Himmel, seeblau, war von Süden her mit Wolken überblasen; der Norden war so klar wie Wasser. Ich ging bis ans Ende des Blocks. Das Pflaster war am Rand dunkel vom vorangegangenen Regen. Ich trat über eine Pfütze. Bei der Bushaltestelle - war es schon acht Uhr? - stand ein Mann in wattierter Jacke mit einer emaillierten Brotdose unter dem Arm; zwei Frauen mit Pelzkragen; ein Mann mit grauem Hut und einer Zeitung unter dem Arm; eine Frau mit roten Schuhen und hohen geraden Absätzen. Auf der anderen Straßenseite stand ein langhaariger Jugendlicher in einer Armeejacke, der den Daumen nach einem Auto den Berg hinauf ausstreckte. Er grinste mich an und versuchte, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich glaube, weil ich nur einen Stiefel angezogen hatte, aber er wollte mir etwas am Himmel zeigen, ohne daß die anderen Leute von der Haltestelle es bemerkten. Ich sah durch die Oberleitungen nach oben. Hinter den Gebäuden unten in der Stadt hingen weiße Wolken, Fenster wie eine zerbrochene Bienenwabe zerliefen unter dem messignen Morgenlicht. Vielleicht fünfundzwanzig Grad eines Bogens verschwammen über den Himmel, das Rosa, Grün und Lila eines Regenbogens. Ich sah wieder zu dem Jungen an der Ecke, aber ein fünfundsiebziger Buick hielt bei ihm an, und er stieg, oh bitte, oh Gott, oh Jesus, bitte, bitte ich kann nicht bitte, laß es nicht
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»Würdest du bitte . . .« bat ich sie. Meine Kehle schmerzte vom Laufen und der scharfen Luft. »Würdest du mir bitte sagen, was . . . was sie gesagt haben!«
Beide Hände fuhren wie ein Käfig vor den Mund. Sie war ein Schauer aus Splittern auf metallischem Schwarz. »Jemand auf dem Dach der Bank: der Second City Bank - oh ein verdammter Heckenschütze!«
»Wer zum Teufel?«
Ich umklammerte ihre schmalen Ellenbogen, und sie schüttelte das Haar um den Kopf. »Sag mir, verdammt, wen sie erwischt haben!«
»Paul«, flüsterte sie. »Paul Fenster! Die Schule, Kid . . . alles!«
»Ist er tot?«
Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie sagen, sie wisse es nicht. Ihre Hände zerrten an dem silbernen Stoff an ihrer Hüfte; rot blutete es von der einen; gelblich schlängelte es sich von der anderen über ihren Bauch. »Bei dem Feuer«, sagte sie schnell. »Bei dem Feuer . . . alle deine Gedichte, die neuen, sie sind verbrannt . . .!« Ihre Lippen öffneten und schlossen sich, als wolle sie Worte ausprobieren, von denen aber keines paßte. »Alles, jedes einzelne . . . ich konnte sie nicht . . .«
»Unn . . .« Etwas fuhr mir direkt in den Magen, ohne durch Kehle oder Darm Einlaß zu suchen, sagte ich: »Unnn . . .«
Sie ließ ihr Kleid los.
»Das ist . . . wohl gut so«, brachte ich schließlich heraus. »Ich konnte sie nicht leiden. Deshalb ist es gut . . . daß sie weg sind.«
»Du hättest sie in deinem Notizbuch lassen sollen! Ich hatte unrecht! Du hättest . . .« Sie schüttelte den Kopf. »Oh, es tut mir so leid!«
Ich begann zu husten.
»Weißt du«, sagte sie. »Die Hälfte kann ich sowieso auswendig. Du könntest sie rekonstruieren -«
»Nein«, sagte ich.
»-und Everett Forrest hat dieses . . .«
»Nein, es ist gut, daß sie weg sind.«
»Kid«, sagte sie, »und Paul . . .? Oben auf dem Dach der Second City Bank. Warst du . . .? Oh, bitte, versuche, dich zu erinnern!« Dann zuckte sie zusammen, als habe sie etwas gesehen (hinter mir? Über mir? War mein Licht noch an? Ich kann mich nicht erinnern!), und drehte sich um. Und rannte goldfunkelnd, einen Moment, bevor Schatten sie verschluckte, weg, und ich lief hinter ihr her in das Gebüsch; Füße raschelten über Laub und Asche.
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Heute morgen brachte Bohnenstange eine Frau mit, die ich zuerst für italienisch hielt und die heute abend zu Schwarzer Witwe wurde. Lauschte auf sie während einer
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