Dhalgren
hatte? Seine Gedanken wanderten zu den verschiedenen Orten, wo er es sich gestattet hatte: ganz am Ende der Theke in Imbißstuben, stehend in öffentlichen Pissoirs, in relativ leeren U-Bahnwagen nachts, in Parks, wenn es dämmerte. Er lächelte: rieb weiter.
»Sie sind von meiner Mutter«, sagte Mrs. Richards an der anderen Seite des Tisches. Sie stellte Madame Brown und Arthur eine Suppentasse hin, ging dann zurück in die Küche. »Ich finde altes Silber wunderschön« - ihre Stimme kam herein - »aber das Polieren ist so umständlich.« Sie kam mit zwei weiteren Suppentassen zurück. »Ich frag' mich, ob es das - wie heißt es doch gleich? - dieses Schwefeldioxid ist in der Luft, das Zeug, das in Venedig die ganzen Gemälde und Statuen vernichtet?« Eine stellte sie vor Kidd, die andere vor Bobby, der sich gerade auf seinen Platz zwängte - wieder verrutschten Teller und Silber auf dem Tischtuch; Bobby zog es wieder gerade.
Kidd ließ den verzierten Griff los und legte die Hand in den Schoß.
»Wir waren niemals in Europa«, sagte Mrs. Richards, als sie mit der Suppe für sie und June aus der Küche zurückkam. »Arthurs Eltern aber - vor Jahren. Die Teller sind von Arthurs Mutter - aus Europa. Ich weiß, ich sollte das Gute nicht benützen, aber ich nehme es immer, wenn wir Gäste haben. Sie wirken so festlich - oh, wartet nicht auf mich, fangt einfach an.«
Kidds Suppe schwappte in einem gelben Plastikschüsselchen. Der Porzellanteller darunter trug ein kompliziertes Muster um den hochgezogenen Rand, das von noch feineren Kratzern durchzogen wurde, vermutlich von Reinigungsmitteln oder Stahlwolle.
Er sah sich um, ob er anfangen konnte, traf auf Bobbys und Junes Blicke, die aus dem gleichen Grund umherwanderten. Madame Brown hatte eine Porzellantasse, während alle anderen aus pastellfarbenem Plastik aßen. Er fragte sich, ob nicht er oder nur Madame Brown das verdient gehabt hätte.
Mr. Richards griff nach seinem Löffel und nahm etwas Suppe.
Er tat es ihm nach.
Als er den überdimensionierten Suppenlöffel noch im Mund hatte, merkte er, daß Bobby, June und Madame Brown alle auf Mrs. Richards gewartet hatten, die gerade ihren anhob.
Von seinem Platz aus konnte er in die Küche blicken. Auf der Anrichte brannten Kerzen. Neben einem Papiersack für Müll, dessen Rand säuberlich umgeschlagen war, standen zwei offene Campbell-Dosen. Er nahm noch einen Löffel. Mrs. Richards hatte, dessen war er sicher, zwei, vielleicht auch drei Sorten gemischt. Er konnte keinen spezifischen Geschmack feststellen. Unter der Ecke des Tischtuches war seine Hand zum Knie gewandert - die Seite seines kleinen Fingers kratzte am Tischbein. Erst mit zwei Fingern, dann mit dreien, dann mit dem Daumen, dann mit dem Zeigefingerknöchel erforschte er das gedrechselte Holz, die Platte darüber, die Unterkante, die Flügelschraube, die Verbindungsstücke und abgeschmirgelten Leimüberreste, die Haarrisse, wo die Teile aneinandergefügt waren - und aß seine Suppe.
Mr. Richards lächelte über einem vollen Löffel und sagte: »Wo stammt ihre Familie her, Kidd?«
»New York -« Er beugte sich über die Suppentasse. »Staat New York.« Er fragte sich, wie er darauf gekommen war, daß dies die mildere Variante des knallharten »welche Nationalität hast du denn?« war, was in manchen Teilen des Landes Unannehmlichkeiten bereiten konnte.
»Meine Leute stammen aus Milwaukee«, sagte Mrs. Richards. »Arthurs Familie stammt sämtlich aus der Gegend um Bellona. Meine Schwester hat übrigens auch hier gewohnt - jetzt ist sie allerdings weg. Auch der Rest von Arthurs Familie. Komisch, wenn man denkt, daß Marianne und June - wir haben unsere June nach Arthurs Mutter benannt - und Howard und dein Onkel Al hier nicht mehr wohnen.«
»Oh, ich weiß nicht«, sagte Mr. Richards. Kidd sah, wie er die Frage vorbereitete, wie lange er schon hier sei, als Madame Brown fragte: »Sind Sie Student, Kidd?«
»Nein, Ma'am.« Er merkte, daß es eine Frage war, deren Antwort sie wahrscheinlich wußte, doch er mochte sie dafür. »Ich bin schon eine ganze Zeitlang kein Student mehr.«
»Wo haben Sie denn studiert?« fragte Mrs. Richards.
»Überall. Columbia. Und an einem städtischen College in Delaware.«
»Columbia-University?« fragte Mrs. Richards. »In New York?«
»Nur ein Jahr lang.«
»Wie fanden Sie es? Ich denke oft - wir beide, Arthur und ich, denken beide oft darüber nach, ob die Kinder aus dem Haus gehen sollten, um zu studieren. Ich
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