Dhalgren
geschmeichelt, leicht amüsiert mit hochgezogenen Brauen zu June. Spöttisch? Oder, fragte sich Kidd, war es schlicht Überraschung?
»Ich würde gern mit . . . geistig behinderten Kindern arbeiten, wie Sie!« Junes Fingerspitzen lagen auf der Tischkante, doch so eng zusammen und so gleichmäßig, daß man zählen mußte, um herauszufinden, wo die rechten Finger aufhörten und die linken anfingen.
»Bei meinem Job, Kleines, im Krankenhaus« - Madame Brown nahm einen Schluck, während sie sich nach vorn beugte, schwangen die optischen Schlaufen wie ein glitzerndes Lätzchen nach vorn und wieder zurück -, »habe ich mehr mit den gestörten Eltern zu tun, als mit den Kindern.«
June, die über ihren Ausbruch verlegen schien, begann, die Teller einzusammeln. »Ich möchte gern . . . Leuten helfen, wie Krankenschwestern oder Ärzte. Oder wie Sie« - Kidd reichte ihr seinen, es war der letzte - »bei seelischen Problemen.«
Er zog die Hände zurück über das Tischtuch (Soßenflecken, Suppe, Karottenstücke, der lila Weinfleck) und ließ sie in den Schoß fallen.
Mrs. Richards Platz sah genauso schlimm aus.
»Ich weiß, es ist ein Klischee« - Madame Brown schüttelte den Kopf - »aber es stimmt. Die Eltern brauchen weitaus dringender Hilfe als die Kinder. Ehrlich, sie bringen ihr völlig verstörtes Kind zu uns. Und wißt ihr, was sie schon bei dem ersten Gespräch verlangen? Es ist immer das gleiche: Sie möchten, daß wir sagen 'sie hätten ihn schlagen sollen'. da kommen sie herein mit irgend so einem armen Neunjährigen, den sie geprügelt haben, bis er stumm und völlig verschreckt geworden ist. Das Kind kann sich nicht selber anziehen, kann nur flüstern, und wenn, dann nur mit selbst erfundenen Worten; es macht sich schmutzig, und seine einzigen einigermaßen zusammenhängenden Handlungen bestehen aus gelegentlichen Mord- oder häufiger, Selbstmordversuchen. Wenn ich ihnen nun sagen würde: >Schlag sie! Prügel ihn!< würden sie strahlen - entzückt strahlen. Wenn sie herausbekommen, daß wir ihnen die Kinder wegnehmen wollen, sind sie beleidigt. Trotz all der Sorge und Frustration kommen sie doch wirklich an und hoffen, daß wir sagen >sie machen das alles goldrichtig! Nur noch ein bißchen strenger!< der Grund, warum ich überhaupt mit meinem Job klarkomme« -Madame Brown berührte Junes Schulter und beugte sich vertraulich zu ihr - »denn alles, was ich wirklich tue, ist, die Kinder von ihren Eltern wegzulotsen - ist, daß ich unter all dem freundlichen Geschwätz, wieviel besser es für den Rest der Familie wäre, wenn sie den kleinen Jimmy oder Alice zu uns kommen lassen, sage: Ob es nicht viel interessanter wäre, mit jemandem zu kämpfen, der noch ein bißchen mehr Kraft hat als dieser halbe Leichnam, den sie mir da angeschleppt haben. Warum nicht noch einmal von vorn mit der kleinen Schwester Sue oder dem großen Bruder Bill anfangen? Vielleicht auch mal gegeneinander. Versuch mal, ein Einzelkind von seinen Eltern wegzubekommen, wenn sie es praktisch schon autistisch gemacht haben!« Madame Brown schüttelte den Kopf. »Es ist sehr deprimierend. Manchmal denke ich wirklich, ich sollte den Beruf wechseln - vielleicht Individualtherapie machen. Daran war ich auch schon immer interessiert. Und da dafür momentan im Krankenhaus niemand zuständig ist . . . «
»Brauchst du dazu nicht eine Genehmigung oder Sonderprüfungen, Edna?« fragte Mrs. Richards aus der Küche. »Ich meine, ich weiß, das ist dein Beruf, aber ist es nicht gefährlich, die Gedanken anderer Leute auseinanderzupflücken? Weil man doch nicht weiß, was man tut?« Sie kam mit zwei langstieligen Dessertgläsern wieder herein, gab eines Madame Brown, eines Mr. Richards. »Ich habe einen Artikel gelesen« - sie hielt, die Hände auf die Stuhllehne gestützt, inne - »über so eine Encounter-Gruppe oder wie das heißt. Julia Harrington war vor zwei Jahren mal bei so etwas. Im gleichen Moment, wo ich den Artikel gelesen habe, habe ich ihn auch ausgeschnitten und ihr geschickt. - Es war einfach schrecklich! Überall diese unausgebildeten Leute, die sie leiten und wie sie jeden verrückt machen! Sie berühren sich einander überall und werfen sich in die Luft und erzählen sich einfach alles! Nun, einige Leute haben es einfach nicht ausgehalten und sind sehr krank geworden.
»Nun, ich -« begann Madame Brown eine höfliche Entgegnung.
»Ich glaube, daß das alles Blödsinn ist«, sagte Mr. Richards. »Klar, einige Leute haben Probleme. Und
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